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Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken

Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken

Titel: Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Lorenz
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größer als in Ariks Vorstellung. Von oben hatte es ausgesehen wie eine kleine Wiese mit ausgefransten Rändern. Aber es war keine Wiese, vielmehr eine riesige Fläche – gerade so, wie die Maisfelder, die die Stadt umschlossen. Natürlich hatte Arik das Haus schon viel früher bemerkt, als er mit seinem Fahrrad die Straße, die durch das kleine Waldstück führte, entlang gefahren war. Er war stehen geblieben, einen Fuß auf den von Frostmulden überzogenen Asphalt gestreckt. Als kleines Kind sieht man Dinge, die es nicht wirklich gibt, das wusste Arik. Traumgebilde, mehr nicht. Und mit jedem Schritt erinnerte er sich deutlicher an diese Traumgebilde. Das viel zu große, himmelblau lackierte Fahrrad mit den schnalzenden Spielkarten zwischen den Speichen. Sein Vater hatte es gehasst. »Wir sind doch keine Zigeuner!«, hatte er gesagt, der Atem nach Schnaps riechend, und die Spielkarten einfach zerrissen.
    Traumgebilde. Fragmente der Erinnerung, die zu Episoden wurden.
    Eine Zeit lang war Arik jeden Tag auf dieser Straße gefahren, ob es regnete oder schneite. Nur um zu sehen, ob das Glück funktionieren, sich über das Unglück legen konnte. Sieben Jahre alt, ein schmächtiger Junge mit einer schlafenden Schwester und einem knatternden Fahrrad, das ihn in den Himmel trug. Arik blieb stehen und drehte sich um, blickte hinauf zu Harvey und der dahinter liegenden Straße, die von hier wie ein fast verschwundener Weg aussah. Er erinnerte sich an verloren gegangene Weihnachtstage. So viel Schnee, dass er das Fahrrad hatte schieben müssen, Zuckerwatte vor seinem Mund. Das rote Haus von Schneeverwehungen beinahe verschluckt, ein rostiges Kaminrohr, aus dem dünne Rauchfinger zu den Schneewolken deuteten. Wie hatte Arik nur vergessen können? Er war an diesen Ort gekommen, um sich zu vergewissern, dass alles gut war und alles gut werden konnte. Er schloss die Augen. Jetzt war das Bild so klar wie nie zuvor: Schneefall, fünf Tage lang, angefangen am Weihnachtsabend. Dennoch hatte auf dem Feld beim roten Haus der Löwenzahn geblüht. Sonnengelbe Blüten, dort und da, überall. Natürlich hatte er Karla davon erzählt, es ihr ins Ohr geflüstert, darauf gehofft, dieses Wunder würde sie wecken.
    »Immer wenn man daran denkt, blüht der Löwenzahn. Jedenfalls wenn man mit Liebe daran denkt, du weißt schon«, sagte eine Stimme plötzlich.
    Arik riss die Augen auf. Christoph stand auf der schmalen Veranda, die Leinenhose, das Hemd mit fehlenden Knöpfen blütenweiß, seine Füße nackt. Eine Sekunde lang überlegte Arik, wegzulaufen. Aber er tat es nicht.
    »Keine Angst, ich kann nicht in deinen Kopf sehen.« Christoph lachte ein leises, warmes Lachen. »Du hast mit dir selbst geredet, das ist alles. Ich habe, ehrlich gesagt, keine Ahnung, warum das so ist mit dem Löwenzahn. Manche Leute haben diese Gabe. So wie man eine Gabe dafür hat, lange die Luft anhalten oder drei Kuchen hintereinander essen zu können.« Eine Streichholzflamme züngelte in seiner hohlen Hand. Nachdem er sich eine Zigarette angezündet hatte, sprach er weiter: »Manche Kinder wachen in der Nacht auf und wissen, dass etwas nicht stimmt. Oder sie nehmen einen anderen Weg, weil sie fühlen, dass sonst etwas geschieht. Man kann es Intuition nennen oder einfach nur Instinkt. Wie die Vögel, die das Gewitter spüren, bevor es da ist, und sich einen sicheren Platz suchen. Solche Sachen. Du weißt schon. Wenn die Intuition größer ist als der Verstand sie fassen kann, nennen die Leute das ein Wunder. Glaubst du an Wunder? Jeder Atemzug ist ein Wunder, oder nicht? Sogar, dass du hier bist, ist ein Wunder.« Zigarettenrauch kam aus seinem Mund, während er sprach, und Asche fiel zu Boden. »Ein Wunder, dass diese Stadt noch nicht verschwunden ist. Soll ich dir sagen, was ich glaube?«
    Arik zögerte. Dann nickte er.
    »Ich glaube, dass es in schlechten Zeiten immer auch gute Dinge gibt. Geben muss. Ja, ich glaube, dass sich die Dinge ausgleichen müssen. Verstehst du? Vielleicht nicht sofort, aber irgendwann. Irgendwann gleichen sich die Dinge aus. Gut und Böse.« Christoph setzte sich auf die schmale Stufe der Veranda, strich mit seiner Hand über das raue Holz. »Es ist schon eine ganze Weile her, da hab ich mich das erste Mal gefragt, wann wohl jemand kommen würde. Jemand wie du. Ein Kind. Dann habe ich daran gezweifelt, dass das jemals geschehen würde. So wie man an langen Sommertagen glaubt, es könne nie wieder schneien. Es ist zu weit weg. Unendlich

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