Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken
aber lag immer dort, sein Vater nahm ihn nie mit ins Haus. Ein schweres, unhandliches Werkzeug, der Stiel am vorderen Ende vom alten, dunkel gewordenen Blut überzogen.
»Man muss das Mistvieh genau zwischen den Augen erwischen, das ist das Kunststück«, murmelte sein Vater, eine Zigarette zwischen den Lippen. Natürlich blieb das Ferkel nicht freiwillig stehen, es rannte durch angelehnte Bretter, versuchte zu entkommen.
Tom schloss die Augen. Seine Kindheit war davon gefärbt, einzig und allein davon bemalt. Das Leben eines Kindes auf zwei Tage im Jahr reduziert, die Angst vor diesem Moment so groß, dass nichts anderes zählte. Betend und hoffend, dass es endlich aufhören möge. Verloren die Monate dazwischen.
»Schlag es tot!« Vaters Stimme grässlich hoch, als würde jemand anderes sprechen. Noch heute spürte Tom das Gewicht des Vorschlaghammers in seinen Händen, und manchmal, wenn er neben seiner Frau aufwachte, glaubte er, seine Arme nicht mehr bewegen zu können. Als wären sie an seinen Körper genäht. Der Junge von damals hätte gern seinem Vater gezeigt, dass aus ihm ein richtiger Mann werden konnte, nur damit diese hässliche Stimme verstummte. Aber er konnte es nicht. Sobald der Hammer in seinen Händen lag, schloss er die Augen, verschloss die Seelenfenster, hielt den Atem an. »Du kleine dumme Sau, mach gefälligst deine Augen auf!«, hatte sein Vater geschrien. Acht Jahre alt war Tom damals gewesen, für immer und ewig acht Jahre alt. Grobe Hände, die den Hammer aus seinen Händen rissen, dann ein Zischen und das dumpfe Geräusch, ein fürchterliches letztes Quieken, mehr ein Kinderschrei, splitternde Knochen und ein Körper, der fällt.
Tom zitterte. Durch das kleine Fenster hörte er ein Kind lachen. In der Ecke des Zimmers flüsterten die Mäuse.
»Häng es auf, häng es auf! Schnell!« In seiner Erinnerung hatten Toms Arme alles getan, was zu tun war. Aber seine Seele weigerte sich. Ein Junge, der aus seinem Körper tritt und vom Dachfirst aus zusieht: Ein Erwachsener und ein Kind. Die lose Ahnung, verschwommen und unscharf, dass der Hammer den Schädel des Jungen spalten würde, aber dann doch auf das Schwein niedergeht. Der Junge, der das Ferkel an den Hinterbeinen packt. Ein grobes Seil, an einen der rostigen Hacken an der Rückwand der Scheune gehängt. Ein Messer wird aufgeklappt und durchtrennt den Hals des Ferkels, frisches scharlachrotes Blut spritzt heraus. In den Händen des Jungen ein schmutziger Eimer, in den das Blut läuft. Nur allzu gut konnte sich Tom an den Geruch des Blutes erinnern, vermengt mit dem Schweiß seines Vaters. Nach 1986 hatte es aufgehört. Wie ein Schluckauf, der den Körper nicht länger quält.
Mit dem Gefühl, dass sich die Dinge, genauso wie vor dreizehn Jahren, nochmals ändern sollten und er vor einer Tür stand, die sich noch nicht öffnen ließ, schloss Tom die Augen und dachte an Karla. Eine Schattenzunge malte ihr Gesicht auf die roten Backsteine.
Arik und der Knochenmann
Sommer 1999
Es war ein Tag Anfang September, weit nach Mittag, als er zum ersten Mal den Jungen oben am großen Baum stehen sah. Ausgewaschene Jeans, ein weißes T-Shirt, hohe Turnschuhe. Der Junge blickte auf das Löwenzahnfeld, dann wandte er den Kopf und sah zu ihm runter. Als er die Hand hob, erwiderte Christoph seinen Gruß und lächelte.
Karla schlief in dem winzigen Zimmer neben dem seinen. Jedenfalls in den Zeiträumen, in denen sie nicht die BiPAP-Maschine benötigte. Ein Ungeheuer, das ihr beim Atmen half, mit blinkenden Lichtern und unheimlichen Geräuschen, die man vor allem nachts, wenn alles andere still war, hören konnte, so als würden Gespenster durch das Haus schleichen. Wenn sie an die Maschine angeschlossen war, lag sie unten im Wohnzimmer. Oder sie war im Krankenhaus. Aber wenn es ihr besser ging und in ihrem Hals nur eine Kanüle steckte, dann lag sie hier. Als wäre die Zeit stehengeblieben, der Rost der Zeit abgeschliffen. Nichts in Karlas Zimmer hatte sich verändert, an den Wänden hingen immer noch die alten Plakate: die Bee Gees mit Schlaghosen, Donovan mit Gitarre und Mundharmonika, an den Ecken aufgebogen, von der Sonne gebleicht. Zu Hause konnte Arik seine große Schwester besuchen, konnte sich auf den Stuhl am Fenster setzen und mit ihr sprechen. Konnte ihr von der Schule erzählen und von den neuesten Geschichten. Manches Mal fragte sich Arik, wie lange ein Mensch so leben konnte. Wenn man eine Decke über die Beatmungsmaschine
Weitere Kostenlose Bücher