Silberlicht
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Kapitel 1
J emand sah mich an; ein seltsames Gefühl, wenn man tot ist. Ich war gerade bei meinem Lehrer, Mr. Brown. Wie üblich befanden wir uns in unserem Klassenzimmer, einem abgeschotteten Raum mit Wänden aus Holz, dessen Fenster sich zu den Wiesen im Westen öffneten. Die ausgeblichene Flagge stand in der Ecke, mit Kreidestaub überzogen, das Fernsehgerät ruhte über der Pinnwand wie ein schlafendes Auge, und Mr. Browns mächtiger Schreibtisch wachte über ein Regiment von Schulbänken. Ich kritzelte unsichtbare Kommentare an den Rand eines Aufsatzes, der in Mr. Browns Ablagefach lag, auch wenn meine Worte nie von ihm oder den Schülern gelesen werden konnten. Manchmal zitierte mich Mr. Brown trotzdem, wenn er seine eigenen Anmerkungen dazuschrieb. Er konnte mich vielleicht nicht hören, dennoch gelang es mir, in die mysteriösen Windungen seines Gehirns vorzudringen.
Auch wenn ich das Papier nicht unter meinen Fingern fühlen, die Tinte riechen oder die Spitze eines Bleistifts schmecken konnte, sah ich die Welt mit der Klarheit der Lebenden. Sie dagegen nahmen mich nicht wahr, nicht einmal als Schatten oder schwebenden Dampf. Für die Lebenden war ich leere Luft.
Zumindest dachte ich das. Doch als ein Mädchen mit gelangweilter Stimme laut aus
Nicholas Nickleby
vorlas, und Mr. Brown in einen Schlafzimmertraum darüber verfiel, wie er in der Nacht zuvor seine Frau wach gehalten hatte, als mein Geisterstift über einem falsch geschriebenen Wort verweilte, fühlte ich mit einem Mal, wie mich jemand beobachtete. Doch das war unmöglich, nicht einmal mein geliebter Mr. Brown konnte mich sehen. Ich schwebte schon seit so vielen Jahren tot an der Seite meiner Bewahrer durch die Welt und war niemals in dieser langen Zeit gehört oder von menschlichen Augen gesehen worden. Ich verharrte stocksteif, während sich der Raum um mich faltete wie eine sich langsam schließende Hand. Voller Verwunderung sah ich auf. Mein Blick verengte sich zu einem kleinen Loch, umgeben von Dunkelheit.
Und da fand ich es, das Gesicht, das mir zugewandt war.
Wie ein Kind beim Versteckspielen vermied ich jede Bewegung, für den Fall, dass ich mich geirrt hatte und gar nicht gesehen worden war. Einerseits wollte ich im Verborgenen bleiben, andererseits fühlte ich die kribbelnde Vorfreude, entdeckt worden zu sein.
Seine Augen blickten mich aufmerksam an.
Ich stand vor der Tafel. Das musste der Grund sein, dachte ich. Er liest etwas, das Mr. Brown angeschrieben hat, das Kapitel, das daheim bearbeitet werden soll, oder den Termin für die nächste Prüfung.
Die Augen gehörten einem unauffälligen jungen Mann, der sich kaum von den anderen Schülern unterschied. Da dies eine elfte Klasse war, konnte er nicht älter als siebzehn sein. Ich hatte ihn schon vorher gesehen, doch er hatte keinen Eindruck bei mir hinterlassen, sondern immer nichtssagend, blass und abgestumpft gewirkt. Wenn es jemandem gelänge, mich zu sehen, dann bestimmt nicht diesem Jungen – einem innerlich Abgestorbenen. Um mich erblicken zu können, musste man schon außergewöhnlich sein. Ich bewegte mich langsam an Mr. Browns Stuhl vorbei zum Flaggenständer, wo ich stehen blieb. Der Junge blickte starr geradeaus. Doch schon im nächsten Moment zuckten seine Augen wieder zu mir, und ein Schock durchfuhr mich. Ich atmete scharf ein, die Flagge hinter mir begann sich sanft zu bewegen. Das Gesicht des Jungen zeigte keine Regung, und in der nächsten Sekunde sah er bereits wieder zur Tafel. Seine Züge waren so ausdruckslos, dass ich glaubte, mir das alles nur eingebildet zu haben. Sicher hatte er nur zu mir in die Ecke gesehen, weil ich die Flagge in Bewegung versetzt hatte.
Das geschah häufig. Wenn ich mich zu schnell zu nahe an ein Objekt heranbewegte, erzitterte es manchmal oder geriet aus dem Gleichgewicht, allerdings fast nie, wenn ich es wollte. Wenn man Licht ist, ist es nicht der Hauch des Vorbeihuschens, der eine Blume zum Beben bringt, oder das Vorbeistreichen der Röcke, das Wandbehänge flattern lässt. Wenn man Licht ist, sind es allein die Emotionen, die die glatte Oberfläche der greifbaren Welt kräuseln. Eine Welle der Enttäuschung, wenn der Bewahrer den Roman, den er gerade liest, zu früh schließt, kann sein Haar durchwehen und ihn veranlassen, das Fenster auf Zug zu überprüfen. Ein Seufzer der Trauer über die Schönheit einer Rose, deren Geruch einem vorenthalten bleibt, kann eine Biene verschrecken. Ein leises Lachen über
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