Kinderseelen Verstehen
wollte nie erwachsen sein« davon die Rede ist, dass ein Mensch offensichtlich unter Lebensbedingungen aufwächst, die ihn dazu führen, sich gegen ungünstige Einflüsse zu wehren, um nicht noch weitere (seelische) Verletzungen erleiden zu müssen, dann ist dies keine Fiktion, sondern für viele Kinder Realität. Würde man die vielfältigen, unterschiedlichen, entwicklungshinderlichen Einflüsse einmal bündeln, die so manche Kinder erleben und erleiden müssen, dann leiten sie sich häufig aus folgenden Erlebnissen und Erfahrungen ab. Kinder erfahren
Trennungserlebnisse – zum Beispiel, wenn sie nicht mehr Kind sein dürfen, sondern schon in jungen Jahren möglichst früh »vernünftig« sein müssen; wenn sie in ihrem Umfeld keine »fehlerfreundliche Einstellung« mehr erleben, sondern schon früh möglichst schnell gute, perfekte Leistungen erbringen müssen; wenn sie sich häufig einsam und unter dem Eindruck allein gelassen fühlen, dass sie sich von der Befriedigung ihrer seelischen Grundbedürfnisse verabschieden müssen.
Beziehungsnöte – zum Beispiel, wenn Eltern oder andere Erwachsene Kinder mit einer permanenten Schuld belegen und diese den Eindruck haben müssen: »Ich kann machen, was ich will – ich mache es niemandem wirklich recht und deswegen werde ich wohl auch nicht geliebt.« Oder wenn Kinder nur dann Beachtung und Liebe finden, wenn sie sich genau so verhalten, wie es die Erwachsenen erwarten. Oder wenn sie sich in für sie wichtigen Situationen kurzfristig ausgeschlossen oder langfristig ausgegrenzt fühlen, obgleich sie die Nähe von anderen Personen dringend bräuchten. Oder wenn Kinder um »Liebe betteln« und Erwachsene sie – aus Trotz oder anderen Gründen – links liegen lassen und Kinder »wie Luft« behandeln.
Bedrohungsängste – zum Beispiel, wenn Kinder Gewalt in ihren unterschiedlichsten Formen erfahren müssen; wenn Kinder unter großer Angst stehen, für klein(st)e Missgeschicke oder Verfehlungen bestraft zu werden; wenn Kinder spüren, dass Eltern unterdrückte Aggressionen gegen sie hegen; wenn Familiengeheimnisse tabuisiert werden und keine offene Kommunikationsatmosphäre in der Familie herrscht.
Auslieferungserlebnisse – zum Beispiel, wenn Kinder sich in bestimmten Situationen völlig wehrlos erleben und sich selbst in Gedanken sagen: »In dieser Situation gibt es für mich kein Entkommen. Hier bin ich wie ein Gefangener in seiner kleinen Zelle bei geschlossener Tür.« Oder wenn Kinder unter einer fehlenden Solidarität ihrer Bindungspartner/Bezugspersonen leiden oder fehlende Unterstützung erfahren müssen; wenn Kinder mit belastenden Situationen konfrontiert werden, auf die sie keinen Einfluss bezüglich einer Veränderung haben; wenn Kinder in Familienstreitigkeiten oder Auseinandersetzungen der Eltern einbezogen werden, in denen sie sich hin und her gerissen fühlen und keinen Ausweg erkennen, wie und wo es Wege aus diesem Gefühl des Ausgeliefertseins geben könnte.
Ohnmachtserlebnisse – zum Beispiel, wenn Kinder trotz eigener Veränderungsvorschläge immer wieder ihre Wirkungslosigkeit erfahren; wenn sie mit Gewalt (durch Anbrüllen, Schläge, massive Vorwürfe) daran gehindert werden, auch ihre Meinung zum Ausdruck zu bringen; wenn sie körperlichen Übergriffen ausgesetzt sind, die ihre Würde oder Intimität verletzen; wenn Kinder in einer überaus stark moralisierenden Umgebung aufwachsen, in der sie sich emotional und kognitiv sehr unfrei fühlen und sie die ganze Atmosphäre um sich herum überwiegend als schwer, belastend, einengend und Angst auslösend empfinden. Das geht bei einigen Kindern so weit, dass diese schon Suizidgedanken entwickeln (vgl. Levine 2005).
Wer führen will, darf denen, die er führen möchte, nicht im Wege stehen.
Lao-Tse
Eltern und auch professionelle Fachkräfte nutzen, wenn sie von »Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern« sprechen, eine Vielzahl unterschiedlicher Begriffe. Dabei ist von »auffälligen Kindern«, »verhaltensgestörten« oder »verhaltensschwierigen Kindern«, »psychisch Kranken«, »verhaltensirritierten Kindern«, »psychosozial gestörten Kindern«, »anormalen Kindern«, »erziehungsschwierigen Kindern«, »psychiatrisch behandlungsbedürftigen Kindern«, »Verhaltensbehinderten«, »Kindern mit abweichendem Verhalten« oder gar »abnormen Personen« die Rede.
Die Vielfalt der Begriffe und Bezeichnungen ist kein Ergebnis aus willkürlich entstandenen Wortschöpfungen. Vielmehr verbirgt sich
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