Kinderseelen Verstehen
einen unerwarteten Schritt tut, wird die Routine durchbrochen. Doch das gelingt nur, wenn man nicht länger an alten Erklärungsmustern festhält.«(S. 18 f.; 22 f.)
Neben vielen weiteren, teilweise sehr unterschiedlichen Definitionen und Beschreibungen, wie »Verhaltensauffälligkeiten« erfasst werden können, fällt vor allem auf, dass die meisten Erklärungsversuche sogenannten normativen Kriterien unterliegen. Solche Bezugssysteme orientieren sich an gesellschaftlich weitverbreiteten und statistischen Normen sowie persönlichen (und damit subjektiv geprägten) Wertvorstellungen. Doch viele Normen sind sowohl von einem historischen und sozialen Wandel, von einer Kultur- und Schichtzugehörigkeit als auch von bestimmten, kindbezogenen Entwicklungsvorstellungen abhängig.
Schon 1982 schrieb Prof. Dr. Sagi: »Gegen die unreflektierte Anwendung des statistischen Normbegriffes bestehen jedoch erhebliche Bedenken, vor allem, weil dadurch angepasstes Verhalten erklärt werden kann. Allzu leicht erscheint das Übliche im Konformen verwirklicht, aber oft entsteht der Gesellschaft Nutzen durch nichtkonformes, unübliches Verhalten. So kann Abweichung auch erwünscht und Konformität schädlich sein.«(S. 17)
Für die Erziehungspraxis kann festgehalten werden:
Bis auf wenige Ausnahmen können alle Formen eines abweichenden, als ungewöhnlich zu bezeichnenden Verhaltens als Ergebnis einer wenig geglückten bzw. gestörten Beziehung und Entwicklungsatmosphäre zwischen dem Kind und seinem Umfeld betrachtet werden (vgl. Metzinger 2005, S. 16).
Bei der Frage, welche Hauptursachen für eine Entstehung und Aufrechterhaltung einer Verhaltensirritation infrage kommen, berücksichtigt ein vielschichtiger Blick sowohl biologische, psychosoziale, soziokulturelle, sozioökonomische Ausgangsdaten als auch vergangene und gegenwärtige Lebensumstände aus allen (!) Lebensfeldern. Also beispielsweise auch die pädagogische Institution, in der sich das Kind aufhält. Alle diese Lebenseinflüsse können zunächst als eigenständige Systeme betrachtet werden, die sich durch ihre Vernetzung zu einem »Gesamtsystem des Aufwachsens« zusammensetzen. Gleichzeitig zeigt aber ein genauerer Blick in die Erziehungspraxis, dass bei aller Multidimensionalität häufig ein bestimmter Einflussbereich trotz aller Vernetzung der »Hauptübeltäter« ist. Diesen gilt es in einer sorgsamen Betrachtung des Problembereiches zu identifizieren.
Jeder dieser Bereiche hat seine eigenen Gesetze, die für das Kind bedeutsam sein können . Diese setzen sich aus unterschiedlichen Einflussfeldern zusammen: dem Gesamtsystem der Familie (Qualität des Partnerschaftssystem der Eltern, Eltern-Kind-System, Geschwistersystem), den umliegenden Systemen (Verwandtschaft, Freundeskreis, Peergroup-Zugehörigkeit, Wohnverhältnisse, Arbeitsplatzsituation der Eltern(teile), finanzielle Situation, Kommunikations-, Interaktions- und Denkstil, Kulturzuordnung), der pädagogischen Einrichtung (Gruppenstruktur, Ausstattung, Selbstverständnis der Fachkräfte, Bindungsgeschehen zwischen ErzieherIn und Kind, Kommunikationsstruktur Kind-Kind), dem Übergangsbereich Familie und Einrichtung (Art der Kontakte, Vorurteile, Kommunikationsstörungen, Konflikte) und dem Kind selbst (körperliche Verfassung, intrapsychische Einstellung im Sinne einer Annahme oder Ablehnung zu sich selbst, Höhe des Selbstwertgefühls, Krankheiten, Entwicklungserfahrungen, soziale Fertigkeiten, intellektuelle Fähigkeiten).
Im Gegensatz zu rein individuumszentrierten Ansätzen, wie sie heute noch verstärkt in der Medizin oder auch der Heil- und Schulpädagogik Anwendung finden, gibt ein solcher systemorientierter Ansatz den Erwachsenen die Möglichkeit, möglichst viele mögliche Auslöser und Hintergründe für das abweichende Verhalten ihres Kindes zu entdecken und »das Problem« in der Verzahnung unterschiedlicher Einflüsse und Ereignisse zu erkennen.
Auch wenn sich die vielfältigsten Verhaltensirritationen bei Kindern aus einem Zusammenspiel unterschiedlich starker entwicklungshinderlicher Lebensbedingungen ergeben, sind es immer wieder einzelne, für das Kind besonders stark wahrgenommene und zugleich emotional intensiv berührende Merkmale, die negativen Einfluss auf das Kind haben. Wie oben erwähnt, gilt es, diesen »Hauptaggressor« herauszufinden.
Ausdrucksformen der Kinder und ihre besonderen Bedeutungswerte
Wie in den beiden vorherigen Kapiteln deutlich wurde, ist die Grundstruktur des
Weitere Kostenlose Bücher