Kindersucher - Kriminalroman
müssen, so wie dieses Mal.
Da die ersten Opfer hauptsächlich aus ärmeren Wohnvierteln kamen, hatten die Ermittler ursprünglich vermutet, die Wurst wäre aus Freibankfleisch hergestellt worden, also aus dem Fleisch der Kadaver von kranken Tieren. Schnell jedoch wurde offenkundig, dass die Opfer nicht nur aus den ärmsten Schichten stammten, sondern auch aus den reichsten Vierteln von Berlin, und bald gab es auch die ersten Opfer aus der Mittelklasse. Listeria waren in mindestens sechs verschiedenen Würstchenarten aufgetaucht, die zu mindestens einem Dutzend Schlachtereien zurückverfolgt werden konnten. Die hatten ihre Produkte allesamt von dem gigantischen Großhandelsmarkt in der Nähe des Alexanderplatzes bezogen. Kraus war in Berlin aufgewachsen, hatte sein ganzes Leben hier verbracht und dabei die riesigen Hallen des Zentralmarktes auf der Neuen Friedrichstraße, nur einen Block vom Polizeipräsidium entfernt, zahllose Male gesehen. Aber er war noch nie hineingegangen.
Bis vor drei Tagen.
Eine gewaltige Arkade aus Ziegeln und Stahl, die mehrere Stockwerke hoch war, begrüßte ihn. Das Tageslicht fiel durch riesige Fenster an beiden Enden ins Innere. Das Meer der Buden und Großhändler erzeugte eine ungeheure Kakophonie von Lärm. Viele Hundert von ihnen versorgten eine Stadt von vier Millionen Menschen mit Fleisch, Fisch, Früchten und Gemüse, und das alles fand unter einem Dach statt. Einzelhändler, Gemüsehändler, Schlachter sowie Fischhändler drängten sich auf jedem Quadratmeter dieser Halle, alle auf der Suche nach einem guten Geschäft.
Kraus wurde von einem hochrangigen Verwalter empfangen, der ihm pflichtbewusst die Kühlkammern unter den großen Hallen zeigte, die direkt mit der Stadteisenbahn verbunden waren, sowie das Hydrauliksystem, das die Produkte mit einzigartigerSchnelligkeit von den Bahnwaggons ablud. Er wurde über die komplizierten Bestimmungen informiert, welche die Handhabung von Lebensmitteln regulierten: Fleisch durfte nur zu bestimmten Stunden und nur durch besondere Eingänge in die Halle gebracht werden, andere Produkte durch andere Eingänge zu anderen Zeiten. Man versicherte ihm, dass alle Händler verpflichtet waren, ihren Bestand wenigstens einmal in sieben Tage auszupacken und alle verdorbenen Artikel zu vernichten. Eine Gruppe von Inspektoren kontrollierte jede Verkaufshalle, und es gab auch eine medizinische Station mit einer erfahrenen Schwester. Nein, das Problem der Listerien hatte seinen Ursprung ganz bestimmt nicht im Zentralmarkt.
Was auch niemand behauptet hatte.
Die ungeheure Halle, in der die Wurstgroßhändler ihren Sitz hatten, war leicht zu erkennen, weil es dort keine Kunden gab. Das Wurstverbot hielt jetzt schon drei Tage an, und die Buden waren leer bis auf einige Dutzend Verkäufer, die händeringend auf Bergen von Bierwurst, Blutwurst, Bockwurst, Bratwurst, Landjäger, Leberkäse, Knackwurst und Gelbwurst saßen. Es gab nahezu zweihundert verschiedene Wurstsorten, die auf ihre Begnadigung warteten. Das Gesundheitsministerium hatte sich auf zwei Großhändler konzentriert: die Brüder Klingel, Lieferant von neun der dreizehn Metzgereien, die mit der Vergiftung in Verbindung gebracht wurden, und Zuckerhof auf der anderen Seite des Gangs, der sieben Fleischer belieferte. Beide hatten ihre Ware direkt von örtlichen Produzenten bezogen, und zwar größtenteils, wenngleich auch nicht ausschließlich von der Strohmeyer Wurst A. G. Keiner jedoch glaubte, dass die Listerien von dort kamen.
Kraus hatte beide einzeln befragt, und sowohl Klingel als auch Zuckerhof betonten diesen Punkt nachdrücklich. Strohmeyer wäre schon viel zu lange im Geschäft, behaupteten sie, und hätte als Hersteller einen viel zu guten Ruf. Die Vergiftungmusste bei einem seiner Lieferanten begonnen haben. Aber keinem der großen, wie zum Beispiel dem Viehhof. Nein, die zentralen Schlachthöfe wurden viel zu streng beaufsichtigt. Es musste ein unkonzessionierter freier Händler gewesen sein. Diese skrupellosen Mistkerle verkauften ihre billige Ware in Gassen abseits der großen Märkte, ohne Miete für Buden zu bezahlen oder Vorschriften einzuhalten. Sie stellten eine echte Bedrohung dar; Kraus konnte sie sich ja selbst ansehen. Die konzessionierten Händler beschwerten sich schon seit Jahren über sie, und was hatte es ihnen gebracht? Diese Katastrophe. Wer würde sie jetzt für all diese verdorbene Ware entschädigen? Wenn das Wurstverbot noch viel länger dauerte, würden die
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