Kindersucher - Kriminalroman
leid? Du bist vollkommen verrückt, weißt du das?« Sie schwang ihre Beine aus dem Bett und fuhr wütend in ihre Hausschuhe. »Du willst diesen Fall übernehmen, also gut. Ich gehe. Ich nehme die Jungs und fahre zu meinen Eltern. Es ist mir völlig egal, ob sie Schule haben. Ihr Leben ist mir wichtiger. Ich werde sie draußen bei meinen Eltern in einer Schule anmelden. Wenn du dich umbringen lassen willst, kann ich dich nicht daran hindern. Aber ich werde ganz bestimmt nicht zulassen, dass du ...«
»Hör mir zu.« Kraus hielt seine Frau fest und versuchte sie sanft umzudrehen, damit sie ihn ansah. »Ich verstehe deine Angst, Vic, wirklich. Und ich glaube auch, dass sie durchaus berechtigt ist; wer auch immer diese Verbrechen begeht, ist vollkommen verrückt. Und gefährlich. Aber denk an den alten Spruch: ›Furcht macht den Wolf größer, als er ist.‹ Die Jungs sind so lange in Sicherheit, wie sie unter Aufsicht stehen. Von jetzt an werden wir dafür sorgen, dass sie nie alleine sind. Nicht eine Minute. An keinem Tag. Sie gehen nicht mehr zur Schule oder von dort nach Hause, ohne dass sie von einem Erwachsenenbegleitet werden. Und sie werden auch nicht mehr unbeaufsichtigt spielen, weder im Park noch hier im Hof. Die Winkelmanns machen sicher mit, und wenn ich sie morgen früh zur Schule bringe, gehe ich zum Direktor und erkläre ihm die Situation. Bis dieser Fall gelöst ist, dürfen Erich und Stefan nie ohne Aufsicht durch einen Erwachsenen sein. Niemals. Aber du darfst nicht mit ihnen weglaufen, Liebling. Die ganze Stadt blickt hilfesuchend auf mich. Wenn ich jetzt meine Frau und meine Kinder wegschicke, um sie in Sicherheit ...«
Vicki drehte sich nicht zu ihm herum, aber sie griff auch nicht nach ihrem Morgenmantel.
»Ich weiß, dass es viel verlangt ist. Aber ich brauche dich wirklich. Bitte, zieh dich nicht von mir zurück.«
Doch genau das tat sie. Sie verließ ihn nicht, aber sie zog sich von ihm zurück. Er spürte es an vielen kleinen Dingen und auf vielerlei Art und Weise. Und wenn jetzt Erich und Stefan etwas passierte ...
Wie jeder Neunjährige konnte Erich recht übermütig werden, vor allem nach einem langen Tag im Vergnügungspark. Es fiel Kraus schwer zu glauben, dass er seinen jüngeren Bruder irgendwo anders hin mitgenommen haben sollte als zum Schwimmbad – wie er es ihm ausdrücklich eingeschärft hatte. Er schnappte sich Heinz’ Hand und eilte den Weg zum Becken hinab, um nach den beiden Jungs zu suchen. Unglücklicherweise war das berühmte, gigantische Wellenbad des Lunaparks an diesem glühend heißen Sommertag bis zum Bersten mit Hunderten von Menschen vollgestopft. »Halt Ausschau nach ihnen, ja, Heinzi?«, bat Willi den Jungen, während sie zu der Stelle des Beckens gingen, wo das Wasser flach war.
Einen Moment lang ließ er zu, dass seine schrecklichsten Ängste in ihm aufwallten. Da spülte eine Woge von so düsterer Trauer über ihn hinweg, dass nur die pummelige Hand des Nachbarjungen verhinderte, dass er darin versank. Er musstesich zwingen, nicht loszurennen und Erichs Namen zu schreien. Es gab doch ganz sicher ein Lautsprechersystem im Schwimmbad? Erich und Stefan waren wohl kaum die ersten Kinder, die im Lunapark verlorengingen. Aber während Kraus das Becken absuchte, die zahllosen Köpfe in den künstlich erzeugten Wellen betrachtete, die Gestalten auf den Wegen, versank er immer tiefer in Verzweiflung. Er suchte nicht nur nach seinen Söhnen, sondern hielt gleichzeitig Ausschau nach einer rothaarigen Krankenschwester. Hatte man ihn vielleicht, wie Vicki fürchtete, ganz bewusst als Ziel ausgesucht? Nur, woher sollte irgendjemand wissen, dass sie heute hierher gegangen waren?
Während Kraus hektisch ein Gesicht nach dem anderen musterte, konnte er die Erinnerung an sein jüngstes Treffen mit Dr. Hoffnung einfach nicht abschütteln.
Nach all den Monaten hatte der Rechtsmediziner endlich die genaue Todesursache der Opfer in diesem ersten Jutesack feststellen können. Mittels einer hoch entwickelten Technik, die die Wellenlängen von Infrarotlicht benutzte, um für das bloße Auge unsichtbare Substanzen zu identifizieren, hatte Hoffnung winzige Flecken auf den Beweisstücken nachweisen können. Sieben, um genau zu sein: fünf auf den Knochen und zwei auf den Säcken. Bei diesen Flecken handelte es sich um Blut. Weitere Tests mit dem Chromatographie-Verfahren, bei dem winzige Fragmente dieser Proben solange erhitzt wurden, bis sie in einen gasförmigen Zustand
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