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Kindersucher - Kriminalroman

Kindersucher - Kriminalroman

Titel: Kindersucher - Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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»Keiner hat etwas gesehen. Die Kinder haben sich nach der Pause aufgestellt, und beim Abzählen stellte sich heraus, dass zwei verschwunden sind. Ich übernehme die volle Verantwortung. Aber wie es geschehen ist, Herr Kriminalsekretär? Keine Ahnung. Wir stehen alle unter Schock.« Ganz ähnlich verhielt es sich in der Lessingakademie, mehrere Kilometer entfernt in Friedrichshain. Der Lehrer war einfach untröstlich. Ein Junge war verschwunden, knapp sieben Jahre alt. Er hatte vor der Schule auf seine Mutter gewartet, die ihn abholen wollte, das war alles. Es war das letzte Mal, dass jemand das Kind gesehen hatte. Die Hirtin dehnte ganz offensichtlich ihr Einzugsgebiet aus und entführte jetzt Kinder bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Außerdem wurden ihre Opfer immer jünger.
    Wie zum Teufel kam sie ungesehen davon?
    »Heil! Heil! Heil! Heil!«
    Die Nazis waren die kleinste Partei im Reichstag, erklärte Fritz. Bei der letzten Wahl hatten sie gerade mal zwölf Sitze errungen. Einen davon hatte ihr begabter Propagandist Joseph Goebbels inne.
    Goebbels, dachte Kraus. Die Welt ist klein. Dr. Weiß hatte seinen Verleumdungsprozess gegen den Mann gewonnen. Aber das konnte diesen Terrier nicht aufhalten. Wenn man ihn trat,biss Goebbels nur umso fester zu und steigerte die Boshaftigkeit seiner Attacken. Weiß musste diesen Hundesohn erneut vor Gericht zerren.
    Extremisten aller Schattierungen gediehen in einer solchen ökonomischen Krise prächtig, merkte Fritz an. Die Nazis träumten davon, ihre Sitze bei den Wahlen im September zu verdreifachen. Das hielt Kraus keineswegs für unwahrscheinlich angesichts der Tatsache, dass jeden Tag eine weitere Fabrik die Pforten schloss, ein weiteres Geschäft Bankrott anmeldete. In Berlin irrten die Arbeitslosen überall herum, ganz gleich, wohin man blickte. Sie saßen auf Parkbänken und standen Schlange vor den Wohlfahrtseinrichtungen. Zumeist waren es Männer, deren Kleidung immer noch Zeugnis von ihrem verflossenen Wohlstand abgelegte. Sie trugen elegante Anzüge und Lederschuhe, die jetzt verschlissen und schmutzig waren, und auf ihren Gesichtern zeigte sich eine grimmige Wandlung von Ungläubigkeit zu Resignation. Es war entsetzlich, mitansehen zu müssen, in welch rasender Geschwindigkeit das Elend sich ausbreitete.
    Von 1914 bis 1924 hatte Deutschland schon schreckliche Jahre ertragen müssen. Den Krieg. Den Hunger. Die Revolution. Die Hyperinflation. Dem war ein unglaublicher wirtschaftlicher Aufschwung gefolgt, aber jetzt stürzte die Wirtschaft erneut in einen Abgrund, und die Menschen gerieten in Panik. Sie sehnten sich verzweifelt nach Führung. Kraus teilte dieses Bedürfnis, aber was er hier und heute sah, hatte nichts mit Politik zu tun. Das hier war eine neue Religion. Und alles andere als ein Witz. Ein kurzer Blick auf Fritz verriet ihm, dass auch seinem Freund das Grinsen vergangen war.
    Auf der Bühne unter ihnen, die wegen der zahlreichen Hakenkreuzfahnen kaum zu sehen war, leitete der Dirigent des Orchesters seine Musiker mit mörderischer Überzeugung, stach mit seinem Taktstock zu, als rammte er jemandem einenDolch ins Herz. Er konnte kaum älter als sechzehn Jahre alt sein. Durch die Gänge marschierten Hunderte von Frauen in langen schwarzen Röcken, die ihnen fast bis zum Knöchel reichten. Dazu trugen sie weiße Blusen und schwarze Krawattenschals.
    War vielleicht die Hirtin unter ihnen? Kraus hielt nach einer Rothaarigen Ausschau.
    Die Presseloge hing zehn Meter über dem Hallenboden, parallel zum Podium, und bot so einen unvergleichlichen Blick auf die ganze Halle. »Ich sagte Ihnen ja, dass sie wirklich ein Schauspiel bieten«, erklärte von Hessler ohne das geringste Interesse. Er hatte unmissverständlich klargemacht, dass er nicht gekommen war, um Hitler zu sehen, sondern um seine eigene wissenschaftliche Arbeit voranzutreiben. Er hatte einen Vorhang quer durch die Presseloge gezogen, um auf diese Weise ein kleines, privates Laboratorium abzugrenzen. Dort widmete er sich jetzt einer ganz normal aussehenden Frau, die ebenfalls bei ihnen saß – dem Subjekt seiner Experimente. Die silberne Augenklappe des Doktors glitzerte, als er Frau Klopstock einen Barbierkittel überlegte und sie an eine bizarr wirkende Maschine anschloss, die von zwei Arbeitern hochgeschleppt worden war. Sie wies Reihen von Schaltern und Knöpfen auf, und Dutzende von Drähten kamen aus ihr heraus, die, wie von Hessler behauptete, »Gehirnströme« maßen.
    »Wenn wir in den

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