Kindersucher - Kriminalroman
ersten Blick gesehen. Zufällig habe ich ein ausgesprochen scharfes Auge. Und da er mir die Ware exklusiv anbot, habe ich den ganzen Posten genommen, fünfundzwanzig Stück. In den letzten zwei Monaten habe ich bereits vier davon verkauft, was unter dem Strich gesehen gar nicht so schlecht ist. Die Leute sind davon fasziniert. Hier in Berlin herrscht starke Konkurrenz, bei so vielen eleganten Geschäften und den großen jüdischen Kauf ... Ah, da ist esja. ›Grenadierstraße 139. Schmuel Markoweitsch. Feine Lederwaren.‹«
Ein leises Klopfen unterbrach sie. Hoffnung stand an der Tür. Er sah elend aus.
Die Taschen waren tatsächlich aus Menschenhaut gemacht.
Und die Verschlüsse waren nicht aus Elfenbein gefertigt. Sondern aus menschlichen Knochen.
Nur einen Steinwurf nördlich vom Alexanderplatz lag das kleine, überfüllte Scheunenviertel, in dem Berlins Ostjuden lebten, Juden, die vor den Kämpfen und den Pogromen in Russland oder der Ukraine Zuflucht in Deutschland gesucht hatten, viele von ihnen illegal. Durch das Herz dieses unordentlichen, bunten, von wimmelndem Leben erfüllten Elendsviertels verlief die Grenadierstraße. Sobald man sie betrat, hatte man den Eindruck, nach Bialystok oder Minsk versetzt worden zu sein. Auf den Trottoirs drängten sich bärtige Männer mit langen schwarzen Mänteln, die Schilder an den Geschäften waren mit hebräischen Zeichen beschriftet, und der Duft nach süßen Zwiebeln wehte aus den Teeläden. Der große blonde Gunther klebte förmlich an Kraus’ Seite und machte ein Gesicht, als wäre er gerade auf einem anderen Planeten gestrandet.
Es dämmerte bereits, und die meisten Geschäfte waren geschlossen. Barfüßige Kinder spielten auf der Straße, Erwachsene hockten auf Treppenstufen, lehnten sich aus den Fenstern oder standen in kleinen Gruppen auf den Bürgersteigen zusammen. Kraus klingelte an der Tür der Hausnummer 139, bei Markoweitsch Feine Lederwaren, aber niemand öffnete. Schließlich steckte eine Frau ihren Kopf aus einem der Fenster im Obergeschoss. »Vas?«
Kraus verstand ein bisschen Jiddisch, die Sprache der Ostjuden, weil die Eltern seines Vaters sie gesprochen hatten. Aber er hatte nicht einmal die Chance, zu antworten, weil die Personmit dem Kopftuch intuitiv anzunehmen schien, dass er nicht jemand war, den Markoweitsch sehen wollte.
»Gevalt!« Sie schlug das Fenster zu.
»Warten Sie hier, Gunther. Und lassen Sie niemanden rein oder raus. Ich gehe auf die Rückseite.«
»Jawohl, Herr Kriminalsekretär! Aber, Herr Kriminal ...?«
»Was ist denn?«
»Wenn jetzt jemand versucht, mir irgendetwas zu verkaufen?«
Trotz des Ernstes der Lage musste Kraus unwillkürlich schallend lachen, als er die fast kindliche Furcht auf Gunthers Gesicht sah. »Wenn Sie nicht hundertprozentig davon überzeugt sind, dass Sie es um die Ecke nicht doch noch billiger bekommen können«, er drohte dem Jungen ironisch mit einem Finger, »dann kaufen Sie es ja nicht.«
Beinahe jedes Gebäude in Berlin war um einen Hinterhof herum gebaut. Bei einigen gab es sogar Höfe hinter diesen Hinterhöfen. Und etliche davon hatten Hinterhöfe hinter Hinterhöfen hinter Hinterhöfen; die Grenadierstraße 139 war eine solche Mietskaserne. Kraus folgte seinem Instinkt, während er immer tiefer in das Gewirr von gepflasterten Gassen eindrang, die auf gepflasterte Höfe führten, bis er sich schließlich von seinem Gehör leiten ließ. Aus den Wohnungen drang eine Symphonie von klapperndem Geschirr und streitenden Familienmitgliedern. Schon bald jedoch hörte er Geräusche, die, da war er sich sicher, Gesang sein sollten. Und zwar nicht einfach nur Gesang, sondern eine Litanei. Ein Gottesdienst. Er erkannte sogar das Lied. »Adon Olam.« Herr des Universums . Es drang aus dem letzten Hof des Gebäudes, aus einer Tür, über die ein kleines Schild mit hebräischen Buchstaben befestigt war. Wie die meisten jüdischen Jungen hatte Kraus seine Bar Mitzwa mit dreizehn Jahren gefeiert und zermarterte sich jetzt den Kopf, um die Zeichen zu entziffern. M-A-R ...
Plötzlich endete das Lied mit einem lauten »A-men«, und die Tür flog auf. Ein blasses, bärtiges Gesicht unter einem weißen Gebetsschal tauchte auf und starrte Kraus an. Der Raum hinter dem Mann war mit weiteren blassen Gesichtern unter weißen Schals gefüllt. Ganz offenbar wussten sie bereits, dass Kraus kam.
»Wer ist Markoweitsch?« Kraus strapazierte sein Jiddisch und zückte seine Dienstmarke.
Er hätte auch ein Gespenst
Weitere Kostenlose Bücher