Kindersucher - Kriminalroman
aus einer anderen Dimension sein können, ihren vollkommen fassungslosen Miene nach zu urteilen. Ein Polizist, der Jiddisch sprach? Ein Bär von einem Mann in den Vierzigern zog sich den Schal vom Kopf und trat vor, halb erstaunt und halb verängstigt.
»Ich habe Papiere, mein Herr.«
»Die interessieren mich nicht.« Kraus rettete sich wieder ins Deutsche. »Ich interessiere mich ausschließlich für Ihr Geschäft.«
Jetzt war Markoweitsch wirklich erstaunt. »Sie sind hier, weil Sie etwas kaufen wollen?«
Eine halbe Stunde später saßen sie in seiner Wohnung über dem Geschäft und Gunther akzeptierte eine zweite Portion Honigkuchen von der Ehefrau mit dem Kopftuch.
»Niemals«, behauptete Markoweitsch bei einem Glas heißen Tee. »Glauben Sie mir, ich hätte es gemerkt. Er hat mich direkt hier auf der Grenadierstraße neben seinem Lieferwagen angesprochen. Und mir diese Taschen gezeigt. Ich war sicher, dass sie gestohlen waren. Aber nein. Er schwor auf die Bibel, dass seine Schwester sie hergestellt hätte, hier in Berlin. Zwei Jahre hätte sie hart daran gearbeitet, so sagte er. Wie hätte ich widerstehen können? Die Ware war ausgezeichnet. Also ging ich ins Geschäft, holte Bargeld und zahlte ihn auf der Stelle aus, zweihundert Reichsmark für fünfundzwanzig Stück. Sobald er weg war,schleppte ich die Taschen direkt zu Schröder. Ich kenne meine Kunden. Sie hat sich auf die Taschen gestürzt wie ein Schwein auf gefilte Makrele . Denn sie sind wirklich einzigartig. Solche Taschen sehen Sie nicht überall, Herr Kriminalsekretär. Sie hat mir fünfhundert Reichsmark bezahlt. Und sie wird einen netten Profit machen, wenn das Geschäft erst mal anläuft.«
»Sie haben den Verkäufer wohl nicht gefragt, woraus die Taschen gemacht sind?«
»Woraus sie gemacht sind? Wie, es ist kein Kalbsleder?«
»Ich nehme an, Sie haben keine Quittung?«
»Quittung?«
»Oder eine Visitenkarte, irgendeine Möglichkeit, wie wir den Verkäufer ausfindig machen können?«
»Das war ein Bargeschäft auf der Straße, Herr Kriminalsekretär. So etwas kommt in diesem Viertel nicht gerade selten vor, wie Sie ja wohl wissen dürften.«
»Er war kahlköpfig, sagen Sie? Und ungewöhnlich groß?«
»Groß wie ein Golem. Ein wahrer Gigant. Sagen Sie mir, hat er etwas Schlimmes verbrochen?«
Nur, wenn man das Entführen und Vergasen von Kindern, den Verkauf ihres Fleisches und die Verwendung ihrer Haut und ihrer Knochen für die Herstellung von Handtaschen als schlimm bezeichnet, dachte Kraus, sagte jedoch lieber nichts. Immerhin rückte er dem Täter allmählich auf die Pelle. Ein Lieferwagen ohne Nummernschilder. Ein Mann so groß wie ein Gigant.
Mit Armen, die so kräftig waren, dass er einen Mann mit einem einzigen Schlag betäuben, ihn in wenigen Sekunden hochheben, ihn mit den Füßen an einen Fleischhaken hängen und mit einem Hackebeil in zwei Hälften zerteilen konnte.
Beim Anblick der roten Indianer-Tätowierung war Kraus sofort eingefallen, woher er sie kannte oder wo er zumindest etwassehr Ähnliches gesehen hatte. Bei Helga. Er und Gunther gingen von Markoweitsch direkt dorthin. In der Villa an der Bleibtreustraße war zwar alles dunkel, aber er hörte merkwürdige Geräusche aus dem Inneren. Er musste mehrere Minuten lang an die Tür hämmern, bevor der Mann im roten Turban schließlich öffnete. Als Kraus seine Marke zeigte, lächelte Zoltan, als wären sie beste Freunde.
»Aber, Herr Kriminalsekretär, sie meditiert. Sie wollen doch nicht ihre Vereinigung mit ...«
»Und ob ich das will.« Kraus schob sich an dem Turban vorbei, und Gunther folgte ihm auf dem Fuß.
Drinnen war der Lärm deutlicher zu hören. Er kam aus dem Untergeschoss. Es hörte sich an wie erstickte Schreie.
»O nein, Herr Kriminalsekretär, Sie ...«
Kraus öffnete mit einem Ruck eine Tür und stand auf dem oberen Absatz einer langen, dunklen Treppe. Das Geschrei nahm sofort erheblich an Lautstärke zu. Und soweit er unterscheiden konnte, handelte es sich um mehrere Stimmen. Aber sie klangen merkwürdig gedämpft. Ein kleines Schild über seinem Kopf verkündete BESTRAFUNGSZIMMER. Er nahm zwei Stufen auf einmal, dicht gefolgt von Gunther. Das flackernde Licht brennender Fackeln fiel auf die Umrisse von ... Ketten. Von Käfigen. Und von Schandpfählen.
Der brave Gunther hatte heute eine ganze Menge zu sehen bekommen. Jungen mit Make-up. Juden im Kaftan. Er hatte alles mit bewundernswerter Gelassenheit aufgenommen. Aber diesmal stieß er ein
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