Kindersucher
sondern auch seine persönliche Nemesis. Er hatte Joseph Goebbels bisher dreimal wegen Verleumdung vor Gericht gezerrt und dreimal das Verfahren gegen ihn gewonnen. Aber nichts konnte den Propagandachef der Nazis aufhalten. Er hatte sich in Weiß verbissen wie ein Terrier, der nicht loslassen wollte, und seine Angriffe wurden immer bösartiger. Seine Zeitung zeigte Illustrationen von »Isidor«, der sich die Taschen mit Geld vollstopfte, Isidor, der mit den Roten unter einer Decke steckte, Isidor, der an einem Galgen der Nazis baumelte. Dass Weiß sich die Zeit genommen hatte, Kraus heute Abend persönlich zu ehren, war wirklich etwas Besonderes. Denn die letzten Monate waren nicht spurlos an dem Vizepräsidenten der Polizei vorübergegangen. Er wirkte vollkommen ausgezehrt.
»Ich hatte das Privileg, Willi Kraus kennenzulernen, als er gerade von der Polizeiakademie kam. Wir haben zusammen an dem Mordfall Rathenau gearbeitet, und bereits damals hielt ich ihn für einen der klügsten, besonnensten und hartnäckigsten Kriminalbeamten, die ich je getroffen hatte. Heute Abend jedoch habe ich meine Meinung geändert. Ich glaube, er ist der klügste und hartnäckigste, den ich je getroffen habe.« Eine Welle von Gelächter brandete durch den Raum. »Deshalb verkünde ich stolz, im Namen der Berliner Kriminalpolizei, seine Beförderung vom Kriminalsekretär zum Inspektor, mit allen entsprechenden Privilegien und Pflichten. Ich hege keinerlei Zweifel, dass er weiterhin ganz Berlin mit Stolz erfüllen wird.«
Kraus war so überrascht, dass er seine Tränen kaum zurückhalten konnte.
Vicki schlang ihre Arme um ihn. Die Jungs kamen zu ihm gerannt und drückten sich an ihn. Und dann, bevor er sich versah, rollte man eine riesige, mit Kerzen bestückte Geburtstagstorte herein. Als Kraus davor stand und auf den Kreis aus brennenden Kerzen starrte, gelang es ihm nicht, all die Gedanken zu unterdrücken, die ihm durchs Gehirn tanzten.
Er hatte einen langen Weg zurückgelegt, seit er auf diesen Straßen aufgewachsen war. Er hatte seinen Vater verloren und sich um seine kleine Schwester kümmern müssen, während ihre Mutter gearbeitet hatte. Ob Greta jetzt wohl glücklich war im Heiligen Land, wo sie ihre Kühe melkte? Er hatte drei Jahre lang an der Front des größten bewaffneten Konfliktes der Menschheitsgeschichte überlebt. Er hatte die wundervollste Frau der Welt geheiratet. Und hatte die beiden tollsten Kinder der Welt. Und eine beispielhafte Karriere vor sich.
Es gab so viel, wofür er dankbar sein musste.
Und das war er auch.
Dennoch nagten noch so viele offene Fragen dieses angeblich abgeschlossenen Falles an ihm.
Warum zum Beispiel hatte Ilse nur Jungen entführt? Steckte dahinter etwas Sexuelles? Nichts an diesem Fall deutete darauf hin. Und was zum Teufel war dieses Laboratorium im Turm, auf das sie Hinweise in Axels Wohnung gefunden hatten?
Magda würde es ihnen nicht verraten.
Sie war in die psychiatrische Klinik von Berlin-Buch verlegt worden, auf Station sechs, für die geisteskranken Kriminellen. Dort würde sie sehr wahrscheinlich den Rest ihres Lebens bleiben, falls sie überhaupt jemals vor Gericht gestellt werden würde. Vielleicht, sagte sich Kraus, musste er akzeptieren, dass er niemals alle Antworten auf seine Fragen bekommen würde.
Die Menge um ihn herum rückte näher, alle warteten auf ihn. Er sah seine Frau, seine Kinder, sah Gesichter aus seiner Vergangenheit und Gegenwart, die ihn mit glühenden Augen anstarrten. Es war ein schwer erkämpfter Sieg gewesen, das musste er zugeben. Einer der schwersten. Er hatte das Lob verdient. Also sog er Luft in seine Lungen, bis sie zu platzen drohten, und blies, so fest er konnte, um jede dieser fünfunddreißig Kerzen auszupusten.
Er blies sie alle aus. Fast.
Nur eine wollte nicht erlöschen.
Während seine Gratulanten sich um ihn drängten, ihm die Hand schüttelten, ihm Glück wünschten, ihn umarmten und küssten, brannte in der Tat eine Frage heller in ihm als alle anderen.
Wenn Ilse sie entführt hatte ...
und Magda sie verarbeitet hatte ...
und Axel sie verkauft hatte ...
Wer hatte dann all diese Kinder tatsächlich umgebracht?
Dr. Hoffnung hatte als Todesursache eine Kohlenmonoxyd-Vergiftung festgestellt. Aber im unterirdischen Bau der Köhlers war keine Vorrichtung gefunden worden, mit der man so viele Kinder hätte vergasen können. Sie hatten jeden gottverdammten Winkel dieses Baus auf den Kopf gestellt.
Nichts.
SIEBENUNDZWANZIG
Am
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