Kindersucher
verteilten Flugblätter und stimmten Wahlkampfparolen an. Die Kommunisten mit ihren roten Halstüchern und die SA in ihren braunen Hemden standen auf gegenüberliegenden Straßenseiten. Aber es herrschte eine eher nüchterne, geschäftliche Atmosphäre. Selbst die Braunhemden lächelten höflich und hielten Vicki und Kraus Flugblätter hin.
Hitler und seine Nazis hatten einen Wahlkampf geführt, wie Deutschland ihn noch nicht erlebt hatte. Der »Retter der Nation«, dessen bellende Stimme immer noch durch Kraus’ Kopf hallte, war kreuz und quer durch Deutschland gereist, hatte Reden geschwungen, Massenversammlungen abgehalten und Babys geküsst. Sein Propagandachef, Joseph Goebbels, hatte von der Ostsee bis zu den Alpen Fackelparaden organisiert und alle verfügbaren Flächen mit Hitlers Konterfei bepflastert. Aber die Ergebnisse der jüngsten Meinungsumfragen sowie die nahezu einmütige Meinung der politischen Journalisten, einschließlich der von Fritz, lauteten, dass Nazis und Kommunisten ihren Reiz auf die Masse durch ihre gewalttätigen Auseinandersetzungen untergraben hatten und dass das Zentrum die Mehrheit behalten würde. Diejenigen, die sich am besten in deutscher Politik auskannten, spekulierten, dass die Sozialdemokraten und ihre Verbündeten nach der Auszählung der Wahlzettel genug Stimmen zusammenbekämen, um eine neue Regierung zu bilden. Sie würden das Mandat erhalten, die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen.
Erfüllt von dieser Hoffnung, betraten Vicki und Willi die Schule, die sie beide als Kinder besucht hatten und in die ihr ältester Sohn jetzt ging, und stellten sich in der Schlange an, um ihre Stimmzettel auszufüllen.
Später fuhren sie zu Fritz, zum Dinner und um die Ergebnisse der Wahlen abzuwarten. Da Vickis Vater geschäftlich im Ausland unterwegs war, hatte er ihnen für diese Woche seinen Mercedes geliehen, ein Modell 260 Stuttgart, der solideste Familienwagen dieser Automarke. Im Vergleich zu Kraus’ klapprigem Opel wirkte der Wagen wie ein fliegender Teppich, auf dem sie über belebte Chausseen glitten, dann hinaus in die dunkelgrünen Wälder, bis sie in Rekordzeit im Grunewald landeten. Fritz’ zweistöckige Villa war eine wahre Orgie von historischen Stilen, erbaut in der wilhelminischen Periode. Fritz lamentierte schon seit Jahren, sie wäre veraltet, und hatte erst vor wenigen Wochen einen der gefragtesten Architekten Deutschlands beauftragt, ihm ein neues Haus weiter oben auf der Straße zu bauen.
Als Kraus Vicki aus dem Wagen half, dachte er unwillkürlich an das dunkle, elende Loch, in dem Axel Köhler gehaust hatte. Aber er achtete darauf, sich vor seiner Frau seine Gedanken nicht anmerken zu lassen. Wie der Rest der Welt war Vicki sehr erleichtert, weil sie glaubte, der Fall sei endlich abgeschlossen, eine Meinung, die Kraus auch aus Gründen der Zweckmäßigkeit sehr gelegen kam. Denn nach der Sturmflut von Zeitungsberichten, die auf Magdas Ergreifung gefolgt war, hatten sich zahlreiche Menschen mit allen möglichen neuen Informationen gemeldet, einschließlich des Hausverwalters einer lichtlosen, muffigen Kellerwohnung nur zwei Blocks vom Viehhof entfernt.
»Ich wusste, dass mit dem Kerl irgendwas nicht stimmt«, sagte der Mann, als er Kraus vor ein paar Tagen angerufen hatte.
Die Wohnung war kärglich möbliert und wirkte deprimierend. Eine gründliche Durchsuchung hatte jedoch eine ganze Menge Informationen zutage gefördert – nicht nur ein halbes Dutzend gefälschter Ausweise mit Axels Foto und verschiedenen Namen, sondern auch ein in Leder gebundenes Kontobuch. In penibler Schrift hatte Axel mit Bleistift seit dem Jahr 1924 über sämtliche Jungen, die er an die Turm-Laboratorien geliefert hatte, Buch geführt. Es gab jedoch weder eine Adresse noch eine Telefonnummer oder irgendeinen anderen Hinweis auf dieses Labor. Nur dass ihm für jedes Kind einhundertfünfzig Reichsmark gezahlt worden waren. Das war ein Vermögen. Vor allem für ansonsten »wertlose« Straßenjungen.
Außerdem gab es für jede »Abholung und Entsorgung« weitere fünfzig Mark.
Laut diesem Kontobuch betrug die Zahl der »gelieferten und entsorgten« Jungen zweihundertvierundvierzig.
Falls diese Zahlen stimmten, verbarg sich dahinter der mit Abstand größte Massenmord in der deutschen Geschichte.
Außerdem hatten die Sparten »Nebenprodukte« und »Lederwaren« Axels Einnahmen, wenn auch nach Jahr schwankend, dennoch beträchtlich gesteigert. Vermutlich hatte er ebenso viel
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