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Kindersucher

Kindersucher

Titel: Kindersucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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Sonntag, dem 14. September, rumpelten frühmorgens Lastwagen durch die Beckmannstraße. Aus darauf montierten Lautsprechern dröhnte Marschmusik und der dringende Aufruf an die Bevölkerung, zur Wahl zu gehen. Vicki und Kraus erhoben sich schließlich aus dem Bett, als ihnen einfiel, dass ja Wahltag war. Es wurde Zeit, aufzustehen und sich anzuziehen. Als Vicki in ihr neues Tweedkostüm schlüpfte, verschwanden nicht nur ihre Knie, sondern auch die Hälfte ihrer Waden unter dem Stoff. Kraus hatte sie seit ihrer Heirat nicht mehr in einem so langen Rock gesehen.
    »Du magst ihn nicht, hab ich recht?«, fragte sie bedauernd.
    Was sollte er darauf erwidern? Bis nach dem Krieg war es den Frauen nicht erlaubt gewesen, auch nur ihr Schienbein zu zeigen, bis schließlich, als eines der allgegenwärtigsten Zeichen der Moderne, die Säume immer kürzer wurden. Jetzt wurden die Röcke wieder länger. Das war nicht nur ein Widerspruch zum Fortschritt, sondern eine verdammte Schande, wenn er daran dachte, wie sehr er Beine liebte, vor allem die von Vicki.
    »Na ja ...«, Er nahm sie in die Arme und lenkte sie mit einem Kuss ab. »Jedenfalls hasse ich dich nicht, nicht mal, wenn du so etwas trägst.«
    Erich und Stefan hatten schon gefrühstückt und spielten unten im Hof mit Heinz. Irmgard war bereits auf dem Balkon und hängte die Wäsche auf. Zweifellos wünschte sie sich, sie hätte auch so einen elektrischen Wäschetrockner wie Vicki. »Ja, ja, wir haben schon früh unsere Stimme abgegeben«, sagte sie mit einem Anflug von Missbilligung, weil die beiden so spät dran waren. »Geht nur. Ich passe auf.« Sie scheuchte sie mit einer Handbewegung davon. Den beiden fiel auf, dass ihre Nachbarin in letzter Zeit ziemlich kurz angebunden zu ihnen war.
    Sie traten aus dem Haus und überquerten Hand in Hand die Beckmannstraße. Vickis dunkler Pony wippte im Wind. Kraus hätte den ganzen Weg vor Freude hüpfen können, so glücklich war er. Die Sonne schien und Wolken zogen hoch über den strahlend blauen Himmel. Eine gelbe Straßenbahn ratterte vorbei, die Nummer 89. Er holte tief Luft, die Welt fühlte sich gut an. Er war nicht einmal drei Blocks von hier entfernt aufgewachsen. Seine Eltern hatten in derselben Schule ihre Stimme abgegeben, zu der sie jetzt unterwegs waren. Vicki war nur ein paar Blocks weiter westlich groß geworden. Diese sauberen, von Bäumen gesäumten Straßen waren ihr Zuhause. In diesen Geschäften, diesen kleinen, ordentlichen Läden hatten sie immer eingekauft. Und mit diesen Straßenbahnen waren sie ihr Leben lang gefahren. So unsicher die Zeiten auch geworden sein mochten, an einem Sonntag durch dieses wunderschöne Viertel zu schlendern, erfüllte sie mit Stolz. Vor allem an einem Wahltag.
    Menschenmassen zogen in Richtung Goetheschule, und es herrschte eine irgendwie feierliche Atmosphäre. Bis vor zwölf Jahren hatte es gar keine Wahlen gegeben. Sie hatten unter der eisernen Faust der Tyrannei gelebt. Jetzt wenigstens hatten sie eine Stimme und konnten ihr eigenes Schicksal mitbestimmen. Oder nicht?
    Auf der anderen Straßenseite bemerkte Kraus eine Gruppe von Menschen, die nicht vor einem Wahllokal Schlange stand, sondern vor einer Suppenküche. Manchmal gelang es ihm kaum, dem Gefühl zu entkommen, ins Meer gespült zu werden und dort Strömungen ausgeliefert zu sein, die niemand kontrollieren konnte. Es war schwer zu glauben, dass noch vor einem Jahr Deutschland, Europa und fast die ganze Welt auf einer ökonomischen Woge schwammen, die ganze Nationen in den Himmel gehoben hatte. Jetzt war der internationale Handel geschrumpft. Die Produktion war heruntergefahren worden. Es war, als wären die Grundfesten des Wohlstandes zusammengebrochen und würden die ganze Menschheit mit in den Abgrund reißen.
    Bis auf Kraus. Irgendwie hatte er es geschafft, auf der Welle zu reiten.
    Als sie die sonnige Brandenburgische Straße hinaufgingen, schwebte er immer noch ein Stück über dem Boden. Den Rang eines Inspektors mit fünfunddreißig erreichten nur sehr wenige. Es bedeutete, dass jetzt endlich eine ganze Gruppe von Untergebenen für ihn arbeitete und er außerdem eine beträchtliche Gehaltserhöhung verbuchen konnte. Unwillkürlich spielte er mit dem Gedanken, der Wirtschaft ein bisschen auf die Sprünge zu helfen, indem er ein neues Auto kaufte. Sie brauchten schließlich eins, da der Opel nur noch ein Schrotthaufen war.
    Vor ihrer alten Schule waren alle großen Parteien mit Delegierten vertreten,

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