Kindersucher
habe noch nie eine Persönlichkeit erlebt, die so aus den Fugen geraten ist. Weißt du, was sie gesagt hat? ›Ich fühle mich gut, wenn ich sie an mich drücke, nachdem sie tot sind. Dann bin ich nicht so allein. Aber ich verrate Ihnen ein kleines Geheimnis, Herr ... und zwar nur, weil Sie so nett sind. Diese Dame unter der Knochengasse bin nicht wirklich ich. Sicher, das bin ich, aber das bin ich wie ich als junges Mädchen war. Wissen Sie, damals hatte ich ein Baby, aber ich habe es für alle Ewigkeit verloren. Papa hat mir nicht erlaubt, es zu taufen, bevor er es ermordet hat. Und jetzt muss ich all die kleinen Lieblinge beschützen ... in mir. Weil Papa nicht nur mein Baby ermordet hat, sondern er hat es auch gekocht und mich gezwungen, es zu essen.‹«
Kurt meinte, er könne unmöglich entscheiden, was von dem, was sie sagte, Wahrheit und was Wahnvorstellung sei.
Kraus dagegen stellte sich diese Frage nicht. Bis auf die Vorstellung, dass es nicht sie selbst war, die dort unten gelebt hatte, war der Rest vermutlich alles andere als eine Wahnvorstellung.
»Was ist mit Ilse?«, fragte er angespannt.
Sein Cousin konnte daraufhin nur die Schultern zucken. Bedauerlicherweise, meinte er, wäre die Befragung von Magda zu Ende gegangen, weil sie einen durchaus verständlichen Bruch mit der Realität erlitten hatte. Als wollte sie vermeiden, was sie als sichere, bevorstehende Vernichtung wahrnahm, hatte sie sich in einen psychotischen Mutterleib zurückgezogen. Sie lag jetzt in einer Ecke und nuckelte an ihrem Daumen. Kurt konnte nicht vorhersagen, wie lange das dauern würde. In manchen Fällen überwanden Menschen diesen Zustand nie.
Kraus unterdrückte den Drang, in die Zelle zu gehen und Magda aus diesem Zustand herauszuprügeln.
Denn Magda hatte nichts über ihre süße kleine Schwester verraten.
Die Eiscremedame.
Hoch über Berlin spielte das Orchester weiter. Während sie eine weitere Runde über den Tanzboden drehten, drückte Vicki ihre Wange an die von Kraus.
»Verzeih mir, Liebling, dass ich dir nicht mehr vertraut habe«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Und dass ich es dir so schwergemacht habe. Ich schäme mich schrecklich. Und ich bin jetzt so stolz auf dich. Das sind wir alle. Vor allem die Jungs.«
In seinem Innersten empfand Kraus eine höchst merkwürdige Mischung aus Stolz und Gewissensbissen.
Plötzlich stand Kommissar Horthstaler auf der Bühne, befahl dem Orchester, mit dem Spielen aufzuhören, und bat dann um Ruhe. Er meinte, er hätte etwas anzukündigen. Es war außerdem ziemlich offensichtlich, dass der Kommissar bereits ein paar Gläser zu viel intus hatte.
»Mir ist klar, dass in letzter Zeit vieles von dem, was der Funkturm über unseren Köpfen gesendet hat, keine besonders guten Nachrichten waren.« Horthstaler lachte leise über seine Schlauheit, weil ihm diese Assoziation eingefallen war. »Vor allem für jene unter uns, die dem hebräischen Glauben angehören.«
Eisiges Schweigen breitete sich in dem Raum aus.
Was für ein Zeichen eines fürchterlich schlechten Geschmacks, ausgerechnet hier auf diesen Gewaltausbruch anzuspielen, eine Art Gewalt, die diese Stadt noch nie erlebt hatte seit ... noch nie eben.
Es war eine blutige Zeit auf den Straßen von Berlin gewesen, aber am Donnerstag war es noch schlimmer geworden. Uniformierte Banden von Braunhemden waren mitten am Tag auf die belebte Leipziger Straße gestürmt und hatten angefangen, jeden zusammenzuschlagen, der ihrer Meinung nach jüdisch aussah, sogar Frauen. Sie hatten Hakenkreuze und Karikaturen von Gesichtern mit langen Nasen auf die Fenster von Geschäften geschmiert, die Juden gehörten, und die Schaufenster jüdischer Kaufhäuser eingeschlagen. Nahezu fünfzig Menschen waren verletzt worden, und einer war sogar gestorben. Nie zuvor waren Juden mitten in der Hauptstadt angegriffen worden. Dieser Vorfall hatte die ganze jüdische Gemeinde Deutschlands schockiert.
»Aber«, Horthstaler hob die Hand, um seine Zuhörer um Ruhe zu bitten, obwohl man ohnehin eine Maus hätte hören können, »heute Abend haben wir hervorragende Nachrichten. Und ich bin äußerst entzückt, den Vizepräsidenten der Berliner Polizei begrüßen zu können, der sie uns persönlich überbringt.«
Kraus schnürte sich die Kehle zusammen, als er die freundlichen, dunklen Augen von Dr. Weiß hinter der runden Metallbrille sah. Der Polizeivizepräsident war vollkommen damit beschäftigt, nicht nur die politischen Unruhen zu bekämpfen,
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