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Kindersucher

Kindersucher

Titel: Kindersucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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herausragte. Es war völlig bizarr und versetzte Kraus in eine ganz ähnliche Situation aus seiner Kindheit.
    Er konnte nicht älter als fünf oder höchstens sechs Jahre gewesen sein, als er irgendwo hier in der Gegend an der Hand seiner Mutter einen Zigeuner mit einem Kopftuch gesehen hatte, der auf eine Trommel schlug und einen riesigen Tanzbären hinter sich herführte. Wie faszinierend und schrecklich diese riesige, stinkende Kreatur gewesen war: Ihre Schnauze war mit einem Maulkorb gesichert, sie hatte eine dicke Eisenkette um den Hals und wurde von einem stachelbewehrten Stock gezwungen, auf den Hinterbeinen zu laufen. Immer wenn der Zigeuner den Bären anschrie, wackelte die Bestie mit ihren pelzigen Hüften oder fuchtelte mit ihren Tatzen durch die Luft. Die Furcht und das Mitleid, das diese Kreatur in Kraus geweckt hatte, schien erneut in ihm aufzuwallen, zusammen mit den schrecklichen Zeitungsbildern in seinem Kopf von den Titelseiten dieser Woche.
    Nach dem ungeheuren Erfolg der Nazis bei den Wahlen war in Berlin etwas mit aller Macht wieder aufgeflammt, das man schon seit Jahrhunderten nicht mehr erlebt hatte: Judenhatz. Täglich flatterten nun Berichte aus den Provinzen und manchmal auch aus größeren Städten herein, wo man Juden aus den Betten geholt hatte, sie gedemütigt, verprügelt, ihre Häuser verwüstet und ihre Geschäfte niedergebrannt hatte. In zahllosen Städten wurden Rabbis und Gemeindeführer gezwungen, Spießruten zu laufen. Die Zeitungen in Berlin quollen über von solchen Geschichten und Fotos, manchmal gab es sogar Porträtaufnahmen der Opfer. In Russland, Polen und der Ukraine war so etwas schon seit Jahrhunderten gang und gäbe. Aber hier, in der zivilisiertesten und modernsten aller Nationen?
    Nichts hätte Kraus diese anschwellende Woge von Antisemitismus deutlicher und nachdrücklicher bewusst machen können als die Winkelmanns. Selbst jetzt noch, Tage später, spürte Kraus den schmerzhaften Stich. Nach seinen Jahren in der Armee und bei der Polizei hatte er sich zumindest eine etwas dickere Haut zugelegt. Aber Vicki hatte so ein Verhalten noch nie erleben müssen und war auch nicht besonders gut damit fertiggeworden. Sie hatte keinen Appetit mehr und konnte kaum schlafen. Erich und Stefan schmollten, aber Kraus befürchtete, dass die Jungs auf lange Sicht am meisten leiden würden. Die Leute behaupteten zwar, dass Kinder schneller über solche Dinge hinwegkämen, aber davon war er nicht überzeugt. In gewisser Weise konnte sie die Geschichte mit den Winkelmanns sogar für den Rest ihres Lebens verfolgen. Und solange er lebte, würde er den Winkelmanns niemals verzeihen, dass sie so eine ...
    »Herr Inspektor!«
    Kraus drehte sich um und betrachtete überrascht die schlanke Gestalt, deren Gesicht mit Mascara geschminkt war und die an einer Litfasssäule lehnte. Kai wirkte irgendwie älter, reifer als noch vor ein paar Wochen. Aber er war nicht sonderlich glücklich. Wenn er nur endlich aufhören würde, sich zu schminken. Er sah aus wie eine Porzellanpuppe
    »Wie geht es dir, Kai?« Kraus schluckte. Es kostete ihn immer einen Augenblick, die Verlegenheit zu überwinden, mit ihm gesehen zu werden. »Alles in Ordnung?«
    »Bin nur ein bisschen miesepetrig, das ist alles.« Der Junge zuckte mit den Schultern, und sein goldener Kreolenohrring schaukelte. »Das Geschäft läuft nicht besonders, wenn Sie wissen, was ich meine.«
    Kraus wusste genau, was Kai meinte: Der Junge hatte heute noch nichts gegessen.
    Er warf einen Blick auf die Uhr. Bevor er das Büro verlassen hatte, hatte er mit Vicki telefoniert. Es gab keine besonderen Vorkommnisse. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es ihr etwas ausmachen würde, wenn er ein bisschen später nach Hause käme.
    »Wie wäre es mit einem netten, deftigen Mittagessen bei Aschinger, Kai? Ich lade dich ein.« Kraus schämte sich dafür, dass er hoffte, irgendwo in einer dämmrigen Ecke einen Tisch zu finden. »Für deine Hilfe bei der Ergreifung des Mörders . «
    Der Junge strahlte über das ganze Gesicht.
    Aschinger war eine Institution. Gegründet in den neunziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts hatte das Restaurant ein Dutzend Filialen und war Berlins Mekka für vorzügliches Essen zu günstigen Preisen. Die Speisen wurden in langen Vitrinen ausgestellt und hatten Nummern, damit man sie leichter bestellen konnte. Sie wurden von Angestellten serviert, die wie fürstliche Lakaien gekleidet waren. Die Auswahl an Gerichten war

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