Kindersucher
demütigte ihn so entsetzlich, dass er kaum atmen konnte. Er hätte sich am liebsten Vicki vor die Füße geworfen und sie um Verzeihung gebeten. Ihr versprochen zu kündigen. In die Firma ihres Vaters einzutreten.
»Wenn du willst, kann ich dich und die Jungs morgen früh zu deinen Eltern fahren, Vic.«
Das brachte ihm eine weitere Runde Prügel ein. »Ich will dich nicht verlassen, verdammt! Ich will, dass du mir die Wahrheit sagst!«
Dann brach sie in seinen Armen zusammen und weinte herzzerreißender, als er es jemals bei ihr erlebt hatte.
»Oh, Willi, begreifst du denn nicht? Ich habe eine schreckliche Angst. Nicht nur wegen der Köhlers. Sondern auch wegen der Depression. Wegen der Nazis. Wegen allem!«
»Ruhig, ganz ruhig.« Kraus versuchte so gut es ging, sie zu beruhigen. »Es wird sich alles regeln, so oder so. Du wirst schon sehen.«
Doch am nächsten Morgen fiel es ihm schwer, sich vorzustellen, wie das wohl geschehen sollte.
Denn als er die Wohnungstür öffnete, um die Tageszeitungen hereinzuholen, beherrschte Hitlers Gesicht die Titelseiten sämtlicher Zeitungen.
ACHTUNDZWANZIG
Beim Frühstück wurden sie von einem lauten Klopfen an der Balkontür überrascht. Kraus öffnete, den Mund voller Toast, und sah sich Otto gegenüber, der ihn grimmig anblickte. Irmgard und Heinz standen direkt hinter ihm.
»Wir würden gerne mit euch allen reden, hier draußen, wenn es geht.«
Kraus zuckte mit den Schultern, als er Vicki und die Jungs holte. Keine Ahnung, was er will, sollte das heißen. Dann sah er das von Rot, Gold und Schwarz umrahmte Hakenkreuz an Ottos Revers und wusste, dass es nichts Gutes zu bedeuten hatte.
Schließlich standen sich die beiden Familien auf dem mit Efeu überwucherten Balkon gegenüber.
Kraus konnte sich noch daran erinnern, wie die Winkelmanns eingezogen waren, ein paar Monate nach Vicki und ihm. Sie hatten auf eben diesem Balkon gesessen, in einer heißen Sommernacht mit einer Flasche Cognac, und hatten sich kennengelernt. Zwei junge Paare mit Jungen im selben Alter. Otto sparte, um sein Papierwarengeschäft eröffnen zu können, und Irmgard unterstützte ihn, indem sie als Näherin arbeitete. Vicki war mit Erich zu Hause und erklärte sich bereit, auf Heinz aufzupassen, und zwar fünfeinhalb Tage pro Woche. Fast zwei Jahre lang.
»Wie ihr wisst«, Otto schluckte, »haben sich in diesen letzten Monaten viele Dinge geändert.« Er wischte sich Schweißperlen von der Stirn, obwohl es draußen kühl war. »Wir alle mussten uns der neuen Situation anpassen.« Er hustete. »Um zu überleben. Um mir selbst die einfachste Arbeit zu sichern, musste ich den Nationalsozialisten beitreten, wie du ja sehen kannst. Nachdem ich das getan habe, ist mir vieles, das mir vorher unbegreiflich erschien, plötzlich vollkommen klar geworden. Wir sind jetzt seit etlichen Jahren Nachbarn, ich darf wohl sagen Freunde, aber die Umstände lassen das nicht mehr länger zu. Es ist folglich meine Pflicht, euch darüber zu informieren, dass die Winkelmanns hiermit ihre Beziehung zu der Familie Kraus abbrechen.«
Vicki und Kraus sahen sich an, als überlegten sie, ob das ein Geburtstagsscherz war. »Beziehungen abbrechen?«
Kraus bemerkte, dass Irmgard ihre Finger in den Efeu an der Balkonwand hakte. Er erinnerte sich daran, wie sie einmal beim Efeuschneiden von der Trittleiter gefallen war und sich die Schulter verrenkt hatte. Da er im Krieg viele solche Verletzungen erlebt hatte, hatte er ihre Schulter rasch einrenken können. Sie hatte sich aus Dankbarkeit fast überschlagen, vor allem, weil sie deshalb keinen Arzt hatte bezahlen müssen.
»Wenn wir euch irgendwie beleidigt haben, Otto ...!«, stieß Vicki heiser hervor.
»Nein, nein.« Otto schüttelte den Kopf. »Ihr habt nichts getan. Es liegt an dem, was ihr seid. Ihr seid keine Deutschen. Ich meine, was euer Blut angeht. Die Leute treten jetzt scharenweise bei den Nazis ein, überall, selbst in diesem Mietshaus. Wir können es uns einfach nicht länger leisten, mit euch befreundet zu sein. So ist es eben.«
Normalerweise hätte Kraus unmöglich verstehen können, dass sich ein Mann wie Otto, der erst letztes Jahr Erich auf den Armen ins Krankenhaus getragen hatte, als der gefallen war und schrecklich blutete, sich so vollkommen dem politischen Druck beugen würde. Aber nachdem er dieses Spektakel im Sportpalast miterlebt hatte, verstand er, welche Kräfte hier am Werk waren. Jedenfalls, sagte er sich, handelte sein Nachbar aus
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