Kindersucher
gewaltig: Endlose Vitrinen reihten sich aneinander, endlose Regale, belegt mit Schnitzeln, Koteletts, Ragouts, Filets, Braten und Gulasch. Kai bestellte sich ein Hühnerfrikassee mit Kartoffeln. Und dazu ein großes Glas Bier. Kraus entschied sich für eine herzhafte Bouillabaisse. Zum Nachtisch nahmen beide gezuckerte Pflaumen. Als sie sich einen Platz suchten, störte es Kraus nicht einmal, dass sie nur im Mittelgang einen freien Tisch fanden. Es waren reichlich Exzentriker anwesend, Männer, die mit sich selbst redeten, und Frauen mit seltsamen Perücken. Kai fiel da kaum auf.
»Mmh. Danke, Inspektor, das sieht ziemlich lecker aus.« Kai stürzte sich voller Freude auf sein Essen. Außerdem war seine Laune so dramatisch besser geworden, dass es eine Freude war, ihn anzusehen.
»Das ist das beste Frikassee, das ich diese Woche auf dem Teller gehabt habe. Hab gehört, Sie sind befördert worden. Schön für Sie. Sie haben es verdient! Ich bekomme vielleicht auch eine Beförderung, gewissermaßen.«
»Tatsächlich. Wie kommt das, Kai?«
»Unser Häuptling hat einen Industriemagnaten gefunden, der ihn unterhält, also dankt er ab ... Das heißt, er verlässt uns.«
»Oh, verstehe.« Kraus vermutete, dass der Häuptling Kais Freund gewesen sein musste. Er glaubte so etwas wie Trauer im Blick des Jungen zu erkennen.
Dann hob Kai die Hände und zeigte dabei seine lackierten Fingernägel. »Ich glaube nicht, dass ich in seine Fußstapfen treten kann.« Er seufzte, und seine Stimmung sank. »Die Verantwortung ist zu groß.« Unter dem Make-up konnte Kraus erkennen, wie sich das jungenhafte Gesicht mit durchaus erwachsener Furcht rötete. »Wir sind zehn Jungs in der Bande. Und der Häuptling ist für alles verantwortlich. Für Essen. Kleidung. Einen Platz zum Schlafen. Außerdem müssen wir auf fünf oder sechs Puppenjungs aufpassen, auf die Kleinen. Die Probleme hören nie auf. Uwe war ein geborener Anführer. Aber ich?« Kai trank einen großen Schluck Bier.
Kraus fühlte sich beklommen. In solchen Sachen war er nicht gerade besonders erfahren. Aber ihm war klar, dass der Junge keine Schmeicheleien suchte, sondern nur ein aufmunterndes Wort. Kraus dachte einen Moment nach und sagte dann das Einzige, was ihm in den Sinn kam.
»Während des Krieges habe ich in einer Kommandoeinheit gedient, die hinter den feindlichen Linien operiert hat, Kai. Wir haben für unseren ersten Auftrag sechs Monate trainiert, aber wir waren nicht mal zur Hälfte ins Niemandsland vorgedrungen, als sowohl unser Feldwebel als auch unser Obergefreiter von Mörsergranaten getötet wurden. Wir fünf Überlebenden waren alle einfache Soldaten, von denen keiner zum Anführer qualifiziert war. Es wollte auch keiner das Kommando haben. Trotzdem war klar, dass wir es niemals schaffen würden, wenn nicht irgendjemand die Verantwortung übernahm. Und ich wollte nicht sterben. Also habe ich die Sache in die Hand genommen. Ich hatte keine Ahnung, was ich da tat, sondern habe einfach nur gemacht, was ich für richtig hielt, und, so gut ich konnte, Entscheidungen getroffen. Wir haben unseren Auftrag erfüllt, und ich bin für den Rest des Krieges Zugführer geblieben. Ich habe sogar irgendwann einen Orden dafür bekommen, ein Eisernes Kreuz Erster Klasse.«
Der Junge schwieg lange und warf Kraus dann einen kurzen, dankbaren Blick zu.
Als sie fertig gegessen hatten und gehen wollten, zeichnete sich ein Ausdruck von vorsichtiger Neugier auf Kais Gesicht ab.
»Herr Inspektor, ich will auf keinen Fall respektlos sein. Ich weiß, dass Sie sehr viel erreicht haben. Aber Sie haben sie niemals erwischt, hab ich recht? Die Hirtin, meine ich.«
Es überlief Kraus eiskalt. »Wir haben ihre Geschwister zur Strecke gebracht, Kai. Und ihr Geschäft ist vollkommen ruiniert. Aber diese eine ist aalglatt, das stimmt. Trotzdem werden wir sie erwischen, du wirst schon sehen.«
Der Ausdruck von Vertrauen in den Augen des Jungen war geradezu furchteinflößend.
Nachdem Kraus sich von Kai verabschiedet hatte und über die Baustelle ging, dachte er darüber nach, dass dieser Fall in gewisser Weise immer noch so mysteriös war wie an jenem Tag, als er diesen Jutesack zum ersten Mal gesehen hatte. Er hatte herausgefunden, woher die Opfer kamen. Wie sie entführt worden waren. Wie und wo sie endeten. Aber er hatte immer noch keine Ahnung, wer ihnen diese tödlichen Dosen von Kohlenmonoxid verabreicht hatte oder wo diese grauenvolle Tat überhaupt begangen worden war. Und
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