Kindersucher
hier sein.« Sie rannte in das Zimmer der Jungs.
»Stimmt irgendwas nicht?«, rief Irmgard aus dem Flur. »Wo ist mein Heinz?«
»Stefan.« Vicki packte seine kleinen Schultern. »Das ist kein Spaß. Wo ist dein Bruder?«
Stefan fing an zu weinen.
»Also wirklich, Vicki«, meinte Kraus.
»Was habt ihr mit meinem Sohn angestellt, ihr Mistkerle?«, kreischte Irmgard.
Kraus nahm die Hand seines Jüngsten. »Stefan, selbst wenn Erich dich auf die heilige Bibel hat schwören lassen, dass du nichts verrätst, musst du es mir sagen, verstehst du mich?«
Stefan verbarg sein Gesicht in Kraus’ Armen. »Heinz ist vorbeigekommen, nachdem Mami eingeschlafen war«, heulte er. »Und dann ... dann sind sie ... dann sind sie zusammen weggelaufen.«
»O Gott!«, stöhnte Vicki.
Kraus warf einen Blick auf seine Uhr. »Wann bist du eingeschlafen, Vic?«
»Wage ja nicht, mir die Schuld in die Schuhe zu schieben!« Sie zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen. »Du bist es, der uns in ...!«
»Das spielt jetzt keine Rolle! Sie könnten auch unten im Hof sein. Ich versuche nur herauszufinden, wie weit sie möglicherweise gekommen sein könnten.«
»Was geht da drin vor?«, schrie Irmgard. »Warum sagt ihr mir nichts?«
Vicki hielt sich den Kopf und versuchte nachzudenken. »Das muss passiert sein, nachdem ich mit dir telefoniert habe.«
Fünfzehn Uhr. Fast anderthalb Stunden.
Kraus drehte sich um und rannte zur Tür hinaus.
»Wo ist mein Heinz, du Mistkerl?« Irmgard versuchte ihn am Ärmel zu packen, als er an ihr vorbeistürmte. »Ich rufe die Po ...!«
Aber Kraus raste bereits die Treppe hinunter.
Das Zwielicht verdunkelte die Beckmannstraße, und der kleine Park auf der anderen Straßenseite lag bereits im Schatten. Ein Mann auf einem Motorrad knatterte vorbei. Und eine Frau ging mit einem Dackel an der Leine vorüber. »Haben Sie zufällig zwei Jungen gesehen?« Kraus versuchte, so ruhig zu bleiben wie möglich. »Einen dünnen und einen nicht so dünnen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, tut mir leid.«
»Die hab ich gesehen«, rief jemand aus einem Fenster im ersten Stock. Ein alter Mann steckte seinen Kopf heraus und deutete mit steifen Fingern auf eine Stelle auf der anderen Straßenseite. »Ein dünner und ein dicker. Sie saßen da drüben auf der Parkbank.«
Die Bank war leer. Kraus’ Herz raste. »Wo sind sie hingegangen?«
»Die Frage ist nicht, wohin, sondern wie. Einer dieser kleinen weißen Wagen ist vorbeigekommen, ein Eiswagen. Ein Mann und eine Frau haben die beiden praktisch von der Straße gezerrt. Ich würde sagen, vor etwa einer Stunde.«
Mein Gott! Kraus hatte das Gefühl, als würde der Boden unter seinen Füßen schwanken. Sie hatte ihn die ganze Zeit verfolgt. Und auf ihre Chance gewartet ...
DREISSIG
Der Nebel hing wie ein Leichentuch über dem Landwehrkanal. Das Lagerhaus am Maybachufer 146 lag halb im Dunst verborgen. Der Rest des Häuserblocks, zum größten Teil Mietwohnungen, wirkte in seinem verwaschenen Grau und Blauweiß wie ein Gemälde von Monet. Die ganze Szenerie, leere Straßen, feuchte Pflastersteine und der morastige, grünliche Kanal erinnerten Kraus an die letzten spannungsvollen Augenblicke vor dem Beginn der Märzoffensive 1918. Eine Katze schlich lautlos über den Bürgersteig. Er konnte fast den durchdringenden Pfiff hören, der den Angriff befahl.
Nur ging es für ihn diesmal um etwas weit Persönlicheres.
Kraus warf bestimmt zum hundertsten Mal einen Blick auf seine Armbanduhr. Er hatte nur noch ein paar Minuten Zeit, um seine eigene Offensive zu starten, ohne dabei zahllose Unschuldige zu gefährden. Pünktlich um acht Uhr früh würde dieser ganze Häuserblock zum Leben erwachen, die Fenster würden sich fast gleichzeitig öffnen, Dienstmädchen und Hausfrauen würden das Bettzeug zum Lüften herauslegen. Die stählernen Rollläden vor den Geschäften der Schlachter, Bäcker und Friseure würden knarrend nach oben gezogen werden. Straßenbahnen würden über die Schienen rattern, während sich die Bürgersteige mit Männern in Anzügen füllten, mit Frauen, die einkaufen gingen, und Kindern in Kniestrümpfen, die sich auf den Weg zur Schule machten. Selbst in solch schwierigen Zeiten herrschte in Deutschland Ordnung und Verlässlichkeit. Wo zum Teufel also blieb seine letzte Abteilung?
Der Sekundenzeiger tickte unerbittlich weiter.
Kraus hockte hinter einem Berg aus Holzkisten auf einem flachen Prahm, der vor Tagesanbruch hierher bugsiert worden
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