Kindersucher
explodierten Fenster, eines nach dem anderen. Kraus wurde klar, dass der schlimmste Fall eingetreten war. Der Feind hatte das Feuer zuerst eröffnet.
Er richtete seinen Feldstecher auf die Straße und sah, wie das Mädchen in der Seemannsjacke einmal um seine Achse wirbelte, mit erhobenen Armen, so als würde sie eine Ballettfigur üben, und dann zu Boden stürzte. Der Bürgersteig färbte sich rot. Ihr Gefährte war zu verblüfft, um sich auch nur zu rühren, und die Frau mit dem Teppichklopfer begann zu kreischen.
Kraus ließ den Feldstecher, der an einem Band um seinen Hals hing, fallen und zog seine Luger.
Ein wahrer Hagelsturm aus Kugeln fegte jetzt aus den ersten beiden Stockwerken des Lagerhauses. Im ganzen Häuserblock warfen sich die Polizisten auf den Boden, Hunde heulten, und Jalousien wurden rasselnd wieder heruntergelassen. Der Kapitän des Kanalbootes, ein Mann mit einem Schmerbauch und einem großen Schnurrbart, war ausgesprochen gut bezahlt worden, weil diese Angelegenheit möglicherweise gefährlich sein konnte. Jetzt richtete er sich auf, um zu sehen, was da los war. Es klatschte laut, und ein klebriger Sprühnebel spritzte zwischen seinen Augen hervor.
Kraus fühlte sich wieder in die Schützengräben der Westfront versetzt, funktionierte mechanisch, angetrieben durch Adrenalin, als er sich in diese schreckliche Schlacht stürzte. Er zielte mit seiner Luger, einer halbautomatischen Handfeuerwaffe, und feuerte ein halbes Dutzend Schüsse in genauso vielen Sekunden ab, bevor er nachlud. Die Schutzpolizisten waren mit Mauser-Gewehren bewaffnet, die eine weit größere Reichweite und Durchschlagskraft besaßen. Aber auch damit konnten sie nichts gegen eine Thompson-Maschinenpistole ausrichten.
Querschläger prallten sirrend von Mauern und Pflastersteinen ab, zertrümmerten Straßenlaternen und prasselten wie höllischer Schwefelregen auf Regenrinnen und Rohre. Jeder Schuss fühlte sich an, als würde er Kraus’ Herz durchbohren. Die Vorstellung, dass Erich und Heinz in diesem Lagerhaus gefangen waren, ließ ihn fast verzweifeln.
Verdammt!, rief er ihnen innerlich zu. Lebt. Lebt! Er lud seine Pistole immer wieder nach und feuerte entschlossen auf das Lagerhaus. Hätte er es gekonnt, wäre er diesem ganzen tödlichen Kugelhagel ausgewichen, um zu den Jungs zu gelangen.
Irgendwann registrierte er, dass rechts neben ihm keiner feuerte. Er drehte sich herum und sah Gunther, vollkommen mit Blut bedeckt. Aber es war nicht sein Blut, sondern das des Kapitäns des Prahm. Der Anblick hatte den Jungen paralysiert; sein Mund stand offen und seine Hose war nass. Kraus wusste, dass der sprichwörtliche Schlag ins Gesicht Leute manchmal aus einer solchen Erstarrung reißen konnte, aber ihm war klar, dass es in diesem Fall keinen Sinn haben würde. Er sah eine Reihe von platschenden Einschlägen im Wasser des Kanals. Er warf sich über Gunther, bedeckte schützend mit den Armen ihre Köpfe, und im nächsten Moment erbebte das hölzerne Deck und zersplitterte um sie herum. Dann kippte der Prahm mit einem Ruck nach links, und Kraus hörte Wasser gurgeln. Sie soffen ab.
Gunther packte Kraus am Kragen. »Ich kann nicht schwimmen!«
»Das macht nichts. Wir sind unmittelbar am Ufer. Halten Sie sich einfach an meinem ...« Kraus hatte den Satz noch nicht beendet, als sie auch schon ins eiskalte Wasser fielen.
Zwischen zerborstenen Planken und treibenden Trümmern klammerte sich Gunther erbarmungslos an Kraus. Mit Armen und Beinen und seinem ganzen Oberkörper hockte er wie ein Gorilla auf Kraus’ Rücken. Entsetzen packte Kraus, als er bemerkte, dass er seine Arme nicht befreien konnte. Je mehr er es versuchte, desto fester umklammerte Gunther ihn. Sie gingen beide unter.
Gunther, nein! Aber Kraus konnte unter der Wasseroberfläche nicht sprechen. Wir sind so nah am Ufer. Aber so heftig er das auch mitzuteilen versuchte, sein Kopf blieb unter Wasser. Er konnte nicht atmen. Seine Lungen begannen zu schmerzen. Er kämpfte und wütete, aber Gunther hatte zu viel Angst und war viel zu stark.
Kraus dachte an die Jungs, die darauf warteten, gerettet zu werden.
Und an Vicki. Was würde sie durchmachen müssen, wenn sie Ehemann und Sohn verlor? Das konnte er ihr nicht antun.
Einmal noch. Noch einmal ... es gelang ihm, einen Arm unter Wasser zu befreien.
Er schlug zu, hart, wie ein Hammer, aber der Druck nahm und nahm nicht ab. Erschöpfung überkam ihn. Seine Lungen wurden immer heißer, wollten unbedingt gefüllt
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