Kindersucher
Offenbar hatte Kai keine Ahnung, was mit seinem Sohn passiert war.
Auf der Taxifahrt erfuhr er es.
Die Lindenpassage war eine überdachte Einkaufspassage, die schon bessere Zeiten erlebt hatte. Das Glasdach war voller Algen und Schmutz, und von den Mauern blätterten diverse Farbschichten. Die Passage lockte einen Haufen von schäbigen Figuren in ihr Wirrwarr aus »Seltene-Bücher«-Läden, »Postkarten«-Geschäften und in »Kuriositäten«-Ausstellungen«. Doch in den schmuddeligen Gängen war es im Winter wenigstens warm; deshalb arbeiteten hier die jüngsten von Berlins zahllosen männlichen Prostituierten, die Puppenjungs. Kraus schnürte sich die Kehle zu, als er sie sah: fast ein Dutzend Kinder, im Alter von zehn, elf, vielleicht zwölf Jahren, die vor dem Anatomie-Museum aufgereiht standen, allesamt in merkwürdigen Versionen eines Seemannsanzugs, mit Mütze und Schleife. Sie taxierten jeden Passanten abschätzend als möglichen Kunden. Wie war es möglich, dass Kinder gezwungen waren, auf eine solche Art und Weise um ihr Überleben zu kämpfen? Seine Brust schmerzte, wenn er sie nur sah. Er hätte sie am liebsten alle gerettet. Zurzeit jedoch gab es zwei Jungen, die seine Hilfe dringender benötigten.
Die beiden, die die Hirtin gesehen hatten, Milo und Dolf, waren weggegangen, um eine Nummer fürs Mittagessen zu ergattern.
Kai war stinksauer. »Ich habe ihnen doch gesagt, sie sollten warten.«
»Wir müssen alle essen«, informierte ihn ein flachshaariger Zehnjähriger.
»Inspektor«, Kai traten Tränen in die blauen Augen. »Tut mir leid, dass ich Ihre ...«
»Schon gut.« Kraus zog sich der Magen zusammen, während er in die Tasche griff und dem frisch gebackenen Häuptling der Roten Apachen einen Fünfmarkschein in die Hand drückte. »Du musst mir eins versprechen, Kai: Sobald sie wieder auftauchen, bringst du sie in mein Büro, okay? Und nimm nicht die Straßenbahn.« Als Kraus in seinem Büro an seinem Schreibtisch saß und sich auf seinem Stuhl zurücklehnte, hatte er das Gefühl zu ertrinken. Als würde er so weit heruntergezogen, dass er gleich implodieren müsste. Immer weiter hinab ... Ihm fiel ein, dass er sich auf diese Art und Weise fast das Genick gebrochen hatte, und als er den Stuhl wieder auf alle vier Beine stellte, schien auch sein Körper wieder an die Oberfläche katapultiert zu werden. Hoch, immer weiter hoch ... Aus seiner Brust, seiner Kehle, seinem Mund drang ein lautloser Schrei, dem eine Panikattacke folgte. Wie soll ich ohne Erich leben? Ich werde auch Vicki verlieren. Sie wird mir das niemals verzeihen. Was tun diese Mistkerle diesen Kindern an? O Gott, wenn sie ihnen weh tun ...
Er knirschte mit den Zähnen, während er gleichzeitig den Stuhl umklammerte. Die Wanduhr sagte ihm, dass es noch nicht ganz Mittag war. Vielleicht ging es ihnen ja noch gut. Möglicherweise litten sie nur Todesangst. Die Jungen aus Magdas Verlies haben sich ja auch wundersamerweise erholt, rief er sich ins Gedächtnis. Obwohl nur Gott wusste, unter welchen Folgeschäden sie später leiden würden. Er schlug auf den Schreibtisch und zwang sich nachzudenken. Denk nach! Er hatte die ganze Stadt nach diesen verdammten Turm-Laboratorien auf den Kopf gestellt.
Eine schlaksige Gestalt tauchte auf, so groß, dass sie gerade durch die Tür passte, eine Gestalt mit eingefallenen Schultern und hängendem Kopf. Als Gunther das Kinn hob, begegnete sein Blick dem von Kraus. Dann stolperte der große Junge ins Büro und sank auf die Knie, wie ein gefällter Gigant.
»Ich habe versagt«, jammerte Gunther. Seine knochigen Schultern zuckten. »Ich habe unter Feuer die Nerven verloren.«
Kraus holte tief Luft. Noch vor zwei Stunden hatte sein Assistent ihn in seiner Angst fast ertränkt. Aber darüber konnte er jetzt nicht nachdenken. Und Gunther auch nicht. Dafür hatten sie keine Zeit.
»Das ist ganz normal.« Kraus legte dem zitternden jungen Mann einen Arm um die Schultern. »Hören Sie zu, Gunther. Wer unter solchen Umständen nicht zerbricht, ist kein Mensch. Viel wichtiger ist, dass man sich wieder zusammenreißt, wenn es vorbei ist und man sich erholt hat.«
Gunther konnte sich nicht beruhigen. »Ich habe mich immer für so tapfer gehalten. Aber als dieses Blut über mein Gesicht gespritzt ist ... Ich hatte keine Ahnung, dass es so sein würde ...«
Kraus atmete noch einmal durch. »Es wird alles gut, Gunther.« Er musste den Mann schleunigst auf die Beine bringen. Es war zwölf Uhr.
»Und dann, im
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