Firelight 1 - Brennender Kuss (German Edition)
1
A ls ich auf den stillen See hinausblicke, weiß ich, dass es das Risiko wert ist.
Das Wasser ist ruhig und glatt. Wie poliertes Glas. Nicht ein einziger Windhauch kräuselt die dunkle Oberfläche. Tief hängender Nebel wallt von den glänzenden Bergen auf, die in einem Himmel voller Purpur schweben. Gierig atme ich die Luft ein. Nicht mehr lange, dann wird die Sonne aufgehen.
Völlig außer Atem holt Azure mich ein. Sie gibt sich keine Mühe, den Radständer auszuklappen, und lässt ihr Fahrrad scheppernd neben meins auf den Boden fallen. »Hast du mich denn nicht rufen hören? Du weißt genau, dass ich nicht so schnell fahren kann wie du!«
»Ich wollte das hier nicht verpassen.«
Endlich spitzt die Sonne hinter den Bergen hervor, zunächst nur als dünner rotgoldener Schimmer, der den dunklen See umrahmt.
Neben mir stößt Azure einen Seufzer aus und mir ist klar, dass in ihr dasselbe vorgeht wie in mir – sie malt sich aus, wie das Licht des frühen Morgens auf ihrer Haut schmecken mag.
»Jacinda«, sagt sie, »wir sollten das nicht tun.« Aber überzeugt klingt sie dabei nicht.
Ich vergrabe die Hände in den Taschen und wippe auf den Fußballen auf und ab. »Dich zieht es genauso hierher wie mich. Schau dir nur diese Sonne an!«
Bevor Azure sich weiter beschweren kann, schlüpfe ich schnell aus meinen Klamotten und stopfe sie hinter einen Busch. Zitternd stehe ich am Ufer, aber nicht die schneidende Kälte des frühen Morgens lässt mich schaudern. Ich zittere vor Aufregung.
Hinter mir fallen Azures Kleider auf den Boden. »Cassian wird davon gar nicht begeistert sein«, sagt sie.
Finster runzle ich die Stirn. Als ob mir seine Meinung wichtig wäre! Er ist schließlich nicht mein Freund. Auch wenn er mich gestern beim Flugmanöver-Training erst überraschend attackiert und dann versucht hat, meine Hand zu halten. »Hey, jetzt verdirb uns nicht die Stimmung! Ich will im Moment keinen Gedanken an ihn verschwenden.«
Meine kleine Rebellion richtet sich auch gegen ihn: Cassian . Ständig ist er da, wie ein Schatten, und beobachtet mich aus seinen dunklen Augen. Wartet. Von mir aus kann Tamra ihn haben! Ein Seufzer entfährt meinen Lippen. Es ist einfach grauenhaft, dass sie mir keine Wahl lassen!
Aber noch bleibt mir eine ganze Weile, bevor Nägel mit Köpfen gemacht werden. Jetzt will ich nicht darüber nachdenken.
»Na komm schon!« Ich lasse meinen Geist treiben und sauge alles Leben um mich herum auf. Die Äste mit ihren graugrünen Blättern. Die Vögel, die von der aufgehenden Sonne geweckt werden. Den feuchten Nebel, der sich an meine Schenkel schmiegt. Ich bohre meine Zehen in den rauen Untergrund und zähle in Gedanken die Kieselsteine unter meinen Füßen. Dann spüre ich das vertraute Ziehen in der Brust, während meine menschliche Hülle schmilzt und sich auflöst, um von meiner viel dickeren Drakihaut ersetzt zu werden.
Mein Gesicht wird kantiger, die Wangenknochen bekommen mehr Kontur, werden spitzer und dehnen sich. Während meine Nase eine neue Form annimmt und kleine Höcker sich abzeichnen, verändert sich auch mein Atem. Alle meine Gliedmaßen werden lockerer und länger. Es fühlt sich gut an, wie meine Knochen sich strecken. Voller Vorfreude hebe ich den Kopf und blicke in den Himmel, zu den Wolken. Ich sehe sie, als würde ich bereits durch sie hindurchgleiten – fast kann ich ihren kühlen, feuchten Kuss schon spüren.
Diesmal geht es sehr schnell – es ist vielleicht eine meiner schnellsten Verwandlungen überhaupt. Jetzt, da meine Gedanken frei und klar sind, wo niemand hier ist außer Azure, fällt es mir leicht. Kein Cassian mit seinen grüblerischen Blicken. Keine Mum, deren Augen voller Angst sind. Keiner der anderen, die mich ständig beobachten, begutachten und abschätzen.
Über jeden Schritt und Tritt fällen sie ihr Urteil.
Mir wachsen hauchzarte Flügel, die ein bisschen länger als mein Rücken sind, bis sie schließlich ihre volle Weite entfalten. Mit einem leisen Wispern recken sie sich in die Luft – als würden auch sie seufzen. Als würden auch sie sich nach Erlösung sehnen. Nach Freiheit.
Ein vertrautes Geräusch steigt in meiner Brust auf, das beinahe klingt wie das Schnurren einer Katze. Ich drehe mich zu Azure um und sehe, dass auch sie bereit ist.
Wunderschön, in einem schillernden Blau, steht sie neben mir. Im Morgenlicht bemerke ich die rosa- und violettfarbenen Schattierungen, die im Tiefblau ihrer Drakihaut leuchten. Solche kleinen Dinge
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