Kindersucher
das Tagesblatt sinken. »Ist das nicht dieser arme Pastor, von dem du mir erzählt hast?« Sie reichte ihm die Zeitung und deutete auf eine schwarz umrandete Traueranzeige. Kraus warf einen Blick darauf. Offenbar hatte Baden-Baden Pastor Braunschweig nicht helfen können. Seine Beerdigung war für den heutigen Donnerstag angesetzt. Wie traurig. Kraus fühlte sich seltsam verpflichtet, dorthin zu gehen.
Als er einige Zeit später am evangelischen Friedhof in Pankow aus seinem klapprigen Opel stieg, hielt neben ihm ein langer, weißer Daimler. Hinter dem Steuer saß Zoltan mit seinem roten Turban. Dem Fond entstieg Hohepriesterin Helga in einem schwarzen, mit Perlen bestickten Kleid. Trotz ihrer dunklen Sonnenbrille bemerkte er, dass sie über seinen Anblick erleichtert zu sein schien. Sie verzog ihre glänzenden Lippen zu einem Lächeln.
»Kraus, Sie habe ich hier wahrlich nicht erwartet.« Sie gestattete ihm, sie über den mit Efeu überwucherten Weg zwischen den Gräbern zu begleiten.
»Dasselbe könnte ich von Ihnen sagen, Hohepriesterin.«
»Nun.« Sie warf ihm einen kurzen Seitenblick zu, während sie vorsichtig mit ihren hochhackigen Pumps durch das Efeu stakste. »Der Tod transzendiert wohl selbst eine Scheidung.« Ihr vertraulicher Ton ließ darauf schließen, dass Kraus mittlerweile in die Rubrik guter alter Freund aufgestiegen war. »Ich war elf Jahre lang mit Braunschweig verheiratet.« Sie holte tief Luft, offenbar weil sie ihre Aussage selbst kaum glauben konnte. »Das heißt, eigentlich nur sechs Jahre. Die restliche Zeit war ich mit einer Schnapsflasche verheiratet.« Sie blieb stehen und drehte sich zu Kraus herum. Die Perlenreihen auf ihrem Kleid hüpften. »Hören Sie, Herr Kriminalsekretär, ich möchte Ihnen etwas gestehen ... diese Geschichte mit dem Lampenschirm neulich abends ...« Sie legte die Hand auf ihr Herz und schluckte. »Das war wirklich zu viel. Selbst für mich.«
Sie nahm die Sonnenbrille ab, und zum ersten Mal sah Kraus echte Gefühle in ihren Augen. »Ich fühle mich hier nicht mehr sicher. Ich habe Angst davor, dass sie mir auflauert, wohin ich auch gehe. Deshalb mache ich den Laden dicht. Ich gehe sozusagen auf Tournee. Und zwar so weit weg von Ilse und Deutschland, wie ich kann, nach Südkalifornien. Wäre doch gelacht, wenn ich der guten Schwester Aimee dort drüben nicht ein bisschen Konkurrenz machen könnte.«
Kraus konnte ihr diese Entscheidung wirklich nicht verübeln.
Sie gingen weiter zwischen den Gräbern entlang. Auf halbem Weg hakte sie sich bei ihm ein.
»Wirklich«, sie zuckte mit den Schultern und schenkte ihm ein fast mädchenhaftes Lächeln. »Sie sind der netteste Kriminalbeamte, den ich je kennengelernt habe; zu schade, dass Sie so glücklich verheiratet sind.«
An Braunschweigs Grab gesellten sie sich zu der kleinen Gruppe von Trauernden. Die Perlen auf Helgas Kleid tanzten klickend in dem trockenen Sommerwind.
Und der Mensch, seine Tage sind wie Gras ...
der Wind weht darüber und sie sind verschwunden.
Als der Sarg in die Grube hinabgelassen wurde, stützte Helga sich schwer auf Kraus. Er reichte ihr sein Taschentuch, damit sie sich die Tränen vom Gesicht wischen konnte. Jeder der Trauergäste warf eine Rose in die Grube, dann kehrten sie zusammen über den überwucherten Weg zurück. Als plötzlich ein kleines graues Kaninchen vor ihnen über den Weg sprang, schnappte Helga jedoch plötzlich vernehmlich nach Luft und blieb wie erstarrt stehen, als hätte sie einen Wolf gesehen.
»Lieber Gott!« Sie presste sich die Hand auf die Brust und atmete tief. Kraus wartete auf eine Erklärung, aber sie schien nicht dazu in der Lage zu sein. Schließlich schüttelte sie den Kopf. »Mir ist plötzlich etwas eingefallen. Ich habe nicht die geringste Ahnung, warum es mir ausgerechnet jetzt kommt.« Sie drehte sich zu Kraus herum. »Die Stadt, aus der Ilse angeblich stammt ...« Sie senkte die Stimme. »Sie hat immer darüber geredet, als gäbe es keinen schlimmeren Ort auf der Welt. Sie hatte praktisch Schaum vor dem Mund, wenn sie uns davon erzählte. Sie wollte die Welt von dem Gewürm befreien, das dort lebte, sagte sie. So hat sie es ausgedrückt: die Welt davon befreien. Jetzt fröstelt es mich, wenn ich nur daran denke. Aber damals ... Wir haben gedacht, sie wäre einfach nur ein unglückliches Kind. Sie war noch nicht ganz achtzehn, als sie sich unserer Gemeinde anschloss. Hermann und ich haben sie praktisch adoptiert. Sie hatte keine Eltern. Nur
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