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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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wieder rieb sie ihren hübschen kleinen ondulierten Kopf in aller Öffentlichkeit an seinem Polohemd ... Jetzt steht sie also und winkt Nelly mit ihrem weißen Taschentuch: Guck hierher, Nellychen! Hier in den schwarzen Kasten, gleich fliegt ein Vögelchen raus!
    Zu denken, daß sie alle Ende Zwanzig, Anfang Dreißig waren! Und daß es eine Zeit gab, in der das Leben vor ihnen lag. Da auch Tante Liesbeth, die jüngere Schwester von Nellys Mutter, eine ausgelassene junge Frau war, die Nelly das von Schnäuzchen-Oma genähte Waschsamtkleid überstreifte – das Kind verkühlt sichnoch! – und sie dann zwischen sich und ihren Mann nahm – Alfons Radde, der schon immer strähniges blondes Haar und diese eisblauen Augen hatte, aber vielleicht noch nicht den kalten Blick –, um bis zu Krügers Kaffeegarten hin einszweidrei – hops! zu machen. Da wird Nelly noch einmal geknipst, wie sie zum erstenmal in ihrem Leben aus einem Riesenglas einen Schluck Weiße mit Schuß trinken darf. (Die gleichen Gläser handelt man heute antiquarisch für sechsunddreißig Mark.) Hinter dem Glas hervor Nellys berühmter schelmischer Blick. Augen hat die Kruke!
    Friede Freude Eierkuchen.
    Alfons Radde ist nicht beliebt im Familienkreis, das ist wahr. Zwar hat er Tante Liesbeth zur Frau genommen, die heute ein weißes Kleid trägt, mit Volants am Hals, es kleidet sie. Nach der müßte er sich alle zehn Finger ablecken. Aber in Wirklichkeit ist er mit der Getreide- und Futtermittelfirma Otto Bohnsack & Co. verheiratet und macht dem jungen Bohnsack den Paslack. Alfons Radde, dem der Staub in den großen Halsporen sitzt. Er mit diesem Unding von Nase. Doch Schönheit vergeht, Arsch besteht. Und unsere Liesbeth hat ihn ja partout haben wollen, genau wie sie jetzt partout ein Kind haben will – verständlich nach fast vierjähriger, von Fehlgeburten abgesehen, erfolgloser Ehe. Und wo Charlotte, ihre Schwester, nun schon ihr zweites erwartet, in zwei Monaten. (Leider gibt es kein Foto der schwangeren Mutter. Onkel Walter Menzel hat seine Schwester hinter den Kaffeetisch placiert, ehe er sie knipste.) Dafür betut sich Tante Liesbeth mit ihrer Nichte: Blonde Härchen auf dem Arm, Nelly, das bedeutet einen reichen Mann, garantiert! Da sagt Alfons,ihr Mann: Mach doch keine Mausescheiße mang den Pfeffer! Immer geradezu, Onkel Alfons. Wer’s erlebt, wird noch zu hören kriegen, was Charlotte Jordan über ihn denkt und vorläufig für sich behalten muß – aber da wird man sich nicht mehr auf dem Boden der sogenannten Neumark, nicht im märkischen Kiefernwald am Bestiensee, sondern, für sie alle unvorhersehbar, im Flur eines mecklenburgischen Bauernhauses befinden. Er, Alfons, wird es seiner Schwägerin in unverblümter Rede heimzahlen, und zu seiner Schwiegermutter wird er »Pollackenweib« sagen und seiner Nichte Nelly, nun sechzehn, Gelegenheit zu der Drohung geben, sie lasse ihre Großmutter nicht beschimpfen.
    Und so weiter. Das ist es eben, wenn man im Bilde ist. Der Spielverderber, der schon immer weiß, wie es weitergeht oder endet: Schnäuzchen-Opa hat noch dreizehn, Schnäuzchen-Oma noch zwanzig Jahre zu leben, immer von jenem heiterbewegten Sommernachmittag des Jahres 32 aus gerechnet. Ihr grauhaariger Langhaarterrier Schnäuzchen aber, mit dem Nelly als Kind unter dem Tisch »buchstäblich am gleichen Knochen gelutscht« haben soll, wird schon im Jahre 38, blind und altersschwach, von Hermann Menzel in einem Sanella-Margarinekarton zum Serum-Institut getragen und als vergiftete Hundeleiche wieder zurückgebracht werden; worauf Schnäuzchen-Oma drei Tage lang nicht essen, nicht trinken und nicht schlafen wird.
    (Wozu die Liste der Toten weiterführen? Wozu jetzt schon erwähnen, daß Onkel Walter Menzel seine Schwester Charlotte Jordan, Nellys Mutter, als diese stirbt, zwölf, vierzehn Jahre nicht mehr gesehen haben wird, weil ihn keine zehn Pferde in die russische Zone brachtenund Charlotte, acht Jahre schon im Renten- und Westreisealter, dann eben auch ihren Stolz hatte und nicht zu ihm fuhr?) Unter den vier Onkeln, die zur Auswahl stehn und nach und nach in Erscheinung treten werden, ist Onkel Walter Nellys Lieblingsonkel. Mit Abstand. Er spielt mit ihr Ri-ra-rutsch, wir fahren in der Kutsch und nimmt sie huckepack auf die Schulter, wenn es nun endlich zu jener Kreuzung zweier Waldwege zurückgeht, an der er sein Auto abgestellt hat.
    Bilder auf Chamois, an denen du dich nicht vergreifen willst. Die Hand, die verdorren möge oder aus

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