Kindheitsmuster
Klar, daß ihnen die Erinnerungen ihrer Vorgänger lästig sein mußten.
Doch Fotos, die man oft und lange betrachtet hat, brennen schlecht. Als unveränderliche Standbilder sind sie dem Gedächtnis eingedrückt, es ist bedeutungslos, ob man sie als Beweisstück vorlegen kann. Jenes Foto, dein Leib-und-Magen-Foto, steht dir auf Abruf zur Verfügung, und zwar bis in Einzelheiten (die kleine, leicht nach links geneigte helle Birke am Rande der dunkleren Kiefernschonung, die den Bildhintergrund abgibt): Nelly, dreijährig, splitterfasernackt, als Bildmittelpunkt, Pagenkopf und Körper mit Eichenlaubgirlanden umkränzt, ein Eichenlaubsträußchen in der Hand, mit dem sie in die Kamera winkt. Je kleiner, desto glücklicher – vielleicht ist doch was dran. Vielleicht aber kommt der Reichtum der Kindheit, den jeder empfindet, zustande, indem wir diese Zeit unaufhörlich anreichern durch das Über-Denken, das wir ihr widmen?
Familienleben.
Das Bildchen – vermutlich von Onkel Walter Menzel bei einem Familienausflug nach Altensorge am Bestiensee geknipst, denn Jordans besaßen keine Kamera – bringt Bewegung in das System der Nebenfiguren, dessen Gesetze dir geläufig sind und einleuchtender als die Mechanik der Himmelskörper, die dir im Vergleich mit jenen zufällig erscheint. So daß du eine Ungeduld über die Konfusion von H., der immer wieder fragen muß: Wer ist das nun wieder? und die?, kaum unterdrücken kannst. Beispielsweise hieltest du es für angezeigt, H. und Lenka auf jener Fahrt durch das frühere L. am zweiten Wochenende des Juli 71 alle Wohnungen deiner sämtlichen Verwandten vorzuführen, die in dieser Stadt gelebt hatten. Lenka und H. kannten die neunzehn Personen – wenn man nur Verwandte ersten undzweiten Grades nimmt – nicht einmal alle dem Namen nach. Das Unternehmen endete mit einem Fehlschlag: Ermüdung, Unlust, Langeweile, Familiendschungel, sagte Lenka.
(Sie gab sich einfach keine Mühe, die Übersicht zu behalten. Es kam dann dahin, daß du ihr eine Art Stammbaum in dein Notizbuch kritzeltest, das war gestern, wir schreiben Dezember 72. Nach Weihnachtsbesorgungen, in deren Strudel ihr doch wieder hineingerissen wart, saßet ihr im Café am Nauener Tor, das um diese Zeit von Studenten der Pädagogischen Hochschule besetzt ist, die Lenka nachzuahmen suchte. Sie bestand darauf, auch einen Wermut zu bekommen wie der Student an eurem Tisch, und bemühte sich, ihn mit dem gleichen düsteren Gesichtsausdruck hinunterzukippen. Wenn sie nämlich ihre Großtanten und Großonkel, die alle im Westen leben, persönlich kennen würde, käme ihr der Familienstammbaum weit weniger albern vor, sagtest du, denn dir lag daran, daß sie sich später zurechtfand. Geh doch von den Großeltern aus, batest du sie: Die Menzels – Auguste und Hermann, Schnäuzchen-Oma und Schnäuzchen-Opa; und die Jordans – Marie und Gottlieb, Heinersdorf-Oma und Heinersdorf-Opa. Deren jeweils älteste Kinder, Charlotte und Bruno, werden das Ehepaar Jordan, als Großeltern bekannt. Und dazu, wie üblich, Geschwister und Geschwisterkinder: Liesbeth und Walter Menzel, Olga und Trudchen Jordan. Hör auf, sagte Lenka. Bis vor kurzem habe sie sich noch alle Erwachsenen als gleich alt, alle Leute über fünfzig als uralt vorgestellt. Sie ist sechzehn.)
Wen interessieren diese Leute? Der Vorgang der Namensgebungsetzt ihre Bedeutung voraus, verleiht aber auch Bedeutung. Anonym sein, namenlos, ein Alptraum. Die Macht, die du dir über sie nimmst, indem du ihre richtigen Namen in die wirklichen verwandelst. Jetzt sollen sie sich näherkommen können, als es ihnen im Leben gelingt. Jetzt sollen sie ihr eigenes Leben führen dürfen. Onkel Walter Menzel, Charlotte Jordans jüngerer Bruder, der immer noch seine Kodak gezückt hält, gegen Nelly, seine Nichte. Direkt neben ihm wird Tante Lucie gestanden haben, glückstrahlend mit Walter verlobt – wir schreiben das Jahr 32 –, obwohl ihr Vater, Hausbesitzer und Rentier, seine Tochter partout keinem einfachen Schlosser hat geben wollen. Dann zieh ich eben so mit Waltern zusammen! soll sie geäußert haben, ein Ausspruch, den die Menzels nun wieder nur mit gemischten Gefühlen aufnehmen konnten. Einerseits zeigte sich, wie sehr sie an Walter hing; andererseits sprach aus solcher Redeweise doch auch ein gewisser Leichtsinn, wie ja überhaupt Lucie passabel war, adrett und flink, aber in mancher Hinsicht eben ein bißchen frei. Natürlich konnte sie froh sein, daß sie Walter bekam, aber dann
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