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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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der Gasanstalt, wo man das flache Haus mit den grünen Fensterläden sehen kann. Das ist es: Kesselstraße 7, das Eisenbahnerhaus, in dem Nellys Mutter, Charlotte, ihre Kindheit verlebt hat. Haus ist geprahlt, fast käme man auf die Idee, von zweistöckiger Baracke zu reden. Trostlos, das wäre das passende Wort, aber es wird einbehalten. Hier, in einer der gewiß dürftigen Wohnungen, da hat Hermann Menzel – im Suff natürlich – die Petroleumlampe nach seiner Frau Auguste geschmissen und ihr jene kleine Narbe auf dem rechten Stirnhöcker beigebracht, deren Herkunft Nelly niemals beunruhigt hat, bis Tante Liesbeth eines Nachts – in den ersten Tagen der Flucht übrigens – ihre hysterischen Anfälle ausgerechnet mit Angst und Schrecken in der Kindheit rechtfertigen mußte: Wenn der eigene Vater die Lampe nach der Mutter wirft – den Schreck vergiß erst mal wieder, besonders wenn du zarte Nerven hast.
    Da sagte Schnäuzchen-Oma zu ihrer Lieblingstochter Liesbeth: Wenn über eine alte Geschichte endlich Gras gewachsen ist, dann kommt bestimmt ein junges Kamel, das es wieder runterfrißt.
    Solche Stimmen nun, haufenweise. Als hätte jemand eine Schleuse hochgezogen, hinter der die Stimmen eingesperrt waren. Immer Theater, sagt Schnäuzchen-Opa, immer dieses Theater. (Er ist wohl, wenn man es recht bedenkt, in seiner eigenen Familie der Fremde gewesen.) Alle reden durcheinander, manche singen auch. Onkel Alfons zum Beispiel singt, als sie alle nun quer durch den Wald auf Onkel Walters Auto zumarschieren – ein schwarzer, viereckiger Kasten – und Nelly mit ihrer geringelten Gerte Blumen und Gräser köpft,da singt er laut: »Mein Sohn heißt Waldemar, weil es im Walde war, Anne, Anne, Anne hopsassa, Annemarie.«
    Dies muß nun nicht sein vor dem dreijährigen Kind, das selber schon Lieder kennt und gerne bereit ist, mit seinem Vater »Wir sind die Sänger von Finsterwalde« zu singen oder »Mein Hut, der hat drei Ecken«. Oder auch »Hinaus in die Ferne, für’n Sechser fetten Speck«. So daß man gegen Ende des sehr geglückten Ausflugs auch Bruno Jordans Stimme noch zu hören kriegt, die vielleicht allzulange geschwiegen hat, so als hätte sie nichts zu sagen. Das ist aber nicht an dem. Nicht daß Singen gerade seine Stärke wäre: seit jenem Luftröhrenschnitt im frühesten Kindesalter, der ihn vor dem Ersticken durch Diphtherie bewahrt, aber auch die Stimmbänder beschädigt hat, nicht mehr. Jordan, setzen, Singen Vier. Alles übrige Eins, beiläufig bemerkt. Klassenprimus. Aber »Lippe-Detmold, eine wunderschöne Stadt, darinnen ein Soldat« kriegt er gut hin, besonders jenes »Bumbum« nach der ergreifenden Zeile: Da fiel der erste Schuß. »Und als er in die große Schlacht reinkam, da fiel der erste Schuß, bumbum.« Das kannte Bruno Jordan. Da konnte ihm nämlich keiner was vormachen, der nicht bei Verdun war. Der nicht in einem Unterstand verschüttet gewesen ist. Das hat ihm nämlich fürs Leben gereicht, und zwar voll und ganz. Seitdem kann er sich unter Krieg nur den allergrößten Scheibenkleister vorstellen.
    Dies als Stimmprobe von Bruno Jordan. »Ei, da liegt er nun und schreit nicht mehr, ei, da liegt er nun und schreit nicht mehr, weil der Soldat ist tot, weil der Soldat ist tot.«
    Das Kind weint. Weint? Wieso denn das nun wieder. Na wegen diesem toten Soldaten. Sie ist müde, und da ist sie noch empfindlicher, und da braucht man eben Fingerspitzengefühl, was man mit ihr singt. Alle vier Frauen – Auguste, Charlotte, Liesbeth und Lucie, in der Reihenfolge ihres Alters – lassen sich in puncto Empfindlichkeit von ihren Männern nichts sagen und stellen sich vor das Kind. Schluß jetzt. Und eingestiegen. Sechs Mann in Onkel Walters beinahe voll bezahltes Auto. Schöner Nachmittag, wirklich. Machen wir bald mal wieder. Hat man was, dran zu denken, wenn schlechtere Zeiten kommen. Man will ja nicht unken. Man kann ja auch nicht klagen. So gehn die Stimmen im Auto noch hin und her, werden leiser, hören überhaupt auf in der Dunkelheit. Etwas länger bleibt der Geruch von des Vaters grauem Überzieher, in den Nelly gewickelt ist, vermischt mit dem von Schnäuzchen-Omas Schoß, auf den sie, nicht zufällig, ihren Kopf gelegt hat. Schlaf du man, schlaf.
    (Denk und gedenk, würde sie sagen, wenn du willst und mußt. Und dank, wenn du kannst. Mußt aber nicht. Wirst es schon wissen. Nelly war ihr Lieblingsenkel.) Schnäuzchen-Oma hat nie etwas für sich gewollt. Hier, Kesselstraße 7, ist sie es

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