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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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dem Grabe wachsen, wenn sie sich gegen Vater oder Mutter erhoben hat. Prompt träumst du genau und ausführlich alle Stadien einer Operation, in deren Verlauf dir die rechte Hand – die Schreibhand – kunstvoll wegoperiert wird, wovon du, örtlich betäubt, Zeuge bist. Es geschieht, was geschehen muß, du lehnst dich ja nicht auf, aber angenehm ist es nicht, das denkst du beim Erwachen. Im Halbdämmer hältst du deine Hand hoch, drehst und wendest sie, studierst sie, als sähest du sie zum erstenmal. Sie sieht aus wie ein taugliches Instrument, aber da kann man sich täuschen.
    Was das eigentlich bedeutet, Pollackenweib, will Lenka wissen. Sie kennt das Wort »Pollack« nicht, sie kennt nicht das Wort »Pollackei«, nicht den Ausdruck »polnische Wirtschaft«. Muß sie das kennen? Bruder Lutz, der sich kurz umdreht, die Nichte gründlich ansieht, gibt eine knappe Erklärung, nach vorne, zur Autoscheibe hin. Wiederholt das Wort »früher«, auch »damals«. Du ertappst dich bei dem Gedanken: zu unserer Zeit, erschrickst, verschiebst es auf später, der Fehlleistung auf den Grund zu gehen. Lenka hat die Unterlippe vorgeschoben.Schweigen als Zeichen, daß man aufhören kann, daß sie kapiert hat und auf weitere Belehrung verzichtet. (Wird ihr euer Verhalten einmal in gleicher Weise seltsam vorkommen wie euch das Verhalten der vorhergehenden Generation?)
    Sie hat Hermann Menzel, Schnäuzchen-Opa, nicht mehr gekannt. Du beschreibst die Weidenruten, in die er für Nelly mit seinem scharfen Schustermesser die schönsten Muster schnitzte, zumeist eine Schlangenlinie, die sich zur Spitze hin immer enger um den Stock ringelte. Mit Schlangen hatte er es überhaupt, fällt dir nachträglich auf. Eine von den beiden Geschichten, die er kannte, war ja die Schlangengeschichte, die womöglich in Nellys Gemüt noch tiefer eingegriffen hat als selbst die Aufzeichnungen der Gebrüder Grimm, die gewiß nicht ohne waren.
    Schnäuzchen-Opas Geschichten hatten das Unglück, für wahr zu gelten. Es war Nelly unerträglich, sich das Entsetzen des jungen Holzfällers vorzustellen, der in aller Ruhe – nach angestrengter Holzfällerarbeit – auf seinem laubbedeckten Baumstamm sein trocken Brot verzehrt, aus einer Flasche dazu klares Wasser trinkt (feinere Kost ließ ja die Armut der Holzfäller nicht zu), und der plötzlich spürt, wie sein Baumstamm unter ihm in schlängelnde Bewegung gerät, denn worauf er saß, das war eine Schlange, baumstammdick, mit gefährlichem Giftzahn, tückisch und lüstern auf des Burschen Blut, so daß der gut daran tat, sein Heil in der Flucht zu suchen. Das eigentlich Unheimliche war aber nun, daß der Schreck dem Burschen sein Lebtag anhing, so daß er von Stund an nicht mehr ganz richtig im Kopfe war und ein Zucken, das in Abständen über seinganzes Gesicht lief, nicht beherrschen konnte. Nelly, schaudernd vor der Grimasse, mit der Schnäuzchen-Opa die zwanghafte Gesichtsverzerrung des Holzfällers nachahmte, trieb ihn doch unersättlich zur Wiederholung an. Durch ihn also, durch niemand anderen, hat sie zuerst die Lust am Schauerlichen kennengelernt: Wer hätte die Stirn, die Bedeutung dieses Großvaters für sie zu leugnen.
    Viel später erst – genau: dreizehn Jahre nach dem schönen Familiensonntag am Bestiensee, der mit Gesang enden soll – viel später erfuhr Nelly durch Onkel Alfons Radde, der nun lange genug den Zorn über die Geringschätzung seiner Person durch die Verwandtschaft seiner Frau unterdrückt hat, daß Schnäuzchen-Opa, den sie zeit ihres Lebens als pensionierten Reichsbahnangestellten gekannt und nach dessen Schicksal sie nicht weiter gefragt hatte, weil Kinder in Großvätern kein Schicksal vermuten: daß er es niemals weitergebracht hatte als bis zum Fahrkartenknipser und daß er vorzeitig aus dem Dienst gewiesen war, und zwar wegen fortgesetzter Trunkenheit. Dies, damit die Menzels ihr Getue aufgaben und damit in allererster Linie Charlotte Jordan, geborene Menzel, des Fahrkartenknipsers älteste Tochter, einen Dämpfer kriegte. Andere Leute hat der Esel auch nicht im Galopp verloren.
    (Nelly wieder mal die einzige, die keine Ahnung gehabt hat. Dachte sie sich vielleicht, ihr Großvater war Reichsbahnsekretär? Oder wenigstens Lokomotivführer? Pustekuchen. Nicht mal Zugbegleiter, der. – Nelly hat sich gar nichts dabei gedacht, und Schnäuzchen-Opa tut ihr auf einmal leid.)
    Hier. H., bei dieser Reise auf deine Weisungen angewiesen,hält auf der Friedrichstraße, direkt bei

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