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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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an: Was hat man dir, du armes Kind, getan?«
    Soviel dazu, und vielleicht schon zuviel. Nur noch, daß die Erinnerung an dieses Foto viele Jahre später den Widerspruch der Tochter ersticken wird, wenn ihre Mutter zu ihr sagt: Wie du mir ähnlich bist, ach, wenn du wüßtest! Obwohl die Tochter nicht zugeben wird, daß der Zwang, sich der Gesten, Blicke, Worte der Mutter zu bedienen, sich mit dem Alter verstärkt. Sie ertappt sich bei Nachahmungen, die sie nicht für möglich gehalten hätte.
    Ein Foto mit Hut aber besitzt sie nicht von sich.

5
    Mit Gewalt ist kein Bulle zu melken: Beliebter Ausspruch von Charlotte Jordan.
    Die Schicksale der Vernunft – Vernunft als Übereinstimmung – über die Jahrzehnte hin. Vernunft als Dämpfer: Ein Regelungssystem, das, einmal eingebaut, hartnäckig darauf besteht, das Signal für »Glück« nur im Zustand vernünftiger Übereinstimmung aufleuchten zu lassen ...
    Ein vernünftiges Kind bekommt auch seinen Gutenachtkuß.
    Einmal wirft Nelly alle fünf Geranientöpfe, die vor dem Fenster ihres Kinderzimmers stehen, nacheinander hinunter auf den Bürgersteig und weigert sich dann, die Scherben zusammenzufegen. Sie muß verrückt geworden sein. Spätabends ist sie imstande, eine Erklärung abzugeben: Sie hat eine solche Wut gehabt, weil Herr Warsinski behauptet, man schreibe »Führer« groß. – Aber erbarm dich, das tut man doch! – Wieso! Zuerst hat er gesagt, man schreibt groß, was man sehen und anfassen kann. Den Führer kann Nelly weder sehen noch anfassen (es war im Jahr 36, vor der Erfindung, jedenfalls vor der allgemeinen Verbreitung des Fernsehens). – Nimm doch Vernunft an! Du kannst nicht, aber du könntest. Dummchen. – Dummchen hat Herr Warsinski auch gesagt. Nelly aber kann es auf den Tod nicht leiden, wenn ihr Lehrer sich selbst widerspricht. Als Probe für ihn, nicht ohne böse Vorahnung, schreibt sie »Wolke« klein (sehen, aber nicht anfassen ...), gegen den erbitterten Widerstand der Eltern. Lehrer Warsinskilügt nicht. Er vergißt auch nichts. Wie soll Nelly nachgeben, wenn sie recht hat?
    Bald stellt sich heraus, daß es in der Klasse kein zweites Dummchen wie Nelly gibt, das »Wolke« klein schreibt. Da dürfen alle mal tüchtig über sie lachen: Eins zwei drei: los! – »Wut« schrieb Nelly schon auf eigene Verantwortung groß, obwohl sie Wut nicht sehen und anfassen, nicht hören, riechen oder schmecken kann. Jetzt hat sie endlich Vernunft angenommen.
    Einsicht haben und Vernunft annehmen. Auch: Zu sich kommen. (Komm zu dir.) Die Episode mit den Geranientöpfen war die letzte, die dir am Sonnenplatz einfiel, als ihr schon wieder in das glutheiße Auto einstiegt, und Lenka zeigte kein Interesse. Erst etwas später – ihr fuhrt nun die ehemalige Friedrichstraße hinunter, Nellys ersten Schulweg – erkanntest du, nicht ohne inneren Widerstand, die Wiederholung: Nellys Abwehr gegen gewisse Erinnerungen ihrer Mutter. Du verlorst dich in Betrachtungen über die Wechselfälle, denen Vernunft ausgesetzt sein kann; wie, beim Umschlag der Zeiten, Vernunft und Unvernunft plötzlich die Plätze wechseln; wie, ehe sie jede ihren festen Platz wieder eingenommen haben, ein Unmaß an Unsicherheit sich ausbreitet. Aber das alles gehört nicht hierher; daß unbenutzte Vernunft verkümmert wie irgendein untrainiertes Organ; daß sie, unmerklich zuerst, sich zurückzieht; daß eines Tages, zum Beispiel bei einer unerwarteten Frage, sich erweisen kann: Wichtige Zonen der inneren Landschaft sind von Resignation besetzt, zumindest von Gleichgültigkeit (die Frage, Lenkas Frage, auf die eine Antwort aussteht: Woran ihr eigentlich glaubt. Das wollte sie wissen, nicht herausforderndübrigens) – das alles gehört wohl nicht hierher.
    Behauptung auf Widerruf. Wieso soll nicht hierhergehören, was der Präsident der Vereinigten Staaten, Richard Nixon, gestern (am 20. Februar 1973) gesagt hat: Noch zu keinem Zeitpunkt der Nachkriegsentwicklung seien die Aussichten auf einen dauerhaften Frieden so günstig gewesen wie in diesem Augenblick. Wieso sollst du die Frage unterdrücken, ob das Abklingen der Katastrophenerwartung, das du auch an dir selbst in den letzten Jahren beobachtet hast und das, deutlicher als alle Verlautbarungen, bestätigte: Die Nachkriegszeit ging zu Ende – ob also diese allgemein neue Stimmungslage deine Stoffwahl beeinflußt, sie vielleicht erst möglich gemacht hat. Doch behält der Zeitpunkt etwas Willkürliches: Muß nicht der Berichterstatter

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