Kindheitsmuster
penetranter Name, der allmählich in die Familienatmosphäreeindrang und sie verdarb. Die Lude hat schon wieder ... Er hat mit diesem Weibsstück, der Lude ... Tante Olga aber saß, den Kopf königlich auf ihr Doppelkinn gestützt, steil aufgerichtet auf Jordans Sofa, und eine einzelne Träne, die Nelly niemals vergessen wird, rann ihr unter der randlosen Brille hervor die Wange hinunter. Nelly weiß, diese Träne hat niemand anders als Frau Lude auf ihrem leichtfertigen Gewissen – jene Frau, die Charlotte Jordan nicht mit der Feuerzange anfassen würde, die aber nichtsdestotrotz mit einem einzigen Blick die Männer kirre kriegt. Weil diesem Weib, nach einer Aussage von Heinersdorf-Opa, der Schwanz aus den Augen guckt: Eine Bemerkung, die er natürlich nicht wiederholen darf, die Nelly aber auch im Wiederholungsfalle nicht verstanden hätte.
O FREEDOM, O FREEDOM, O FREEDOM.
Später, Lenka, erzähl ich den Rest, die Tragikomödie. Jetzt haltet ihr erst mal vor dem Hotel, das früher »Bahnhofshotel« hieß und von dem aus das ehemalige »Central-Hotel« auf der anderen Straßenseite mit verwaltet wird, in dem Bruder Lutz telegrafisch die Zimmer bestellt hat. Der Empfangsraum ist bescheiden, die Empfangssekretärin, eine freundliche Frau mittleren Alters, spricht etwas Deutsch. Von telegrafischen Zimmerbestellungen, von einer zustimmenden telegrafischen Rückantwort ist ihr nichts bekannt. Aber das ist kein Grund, nervös zu werden. Sie telefoniert längere Zeit, während du dir die Bilder an den Wänden besiehst.
Ein handgezeichneter Stadtplan, der, wie du sofort erkennst, dem ein für allemal in dein Gedächtnis gedrückten Stadtplan nicht in allen Punkten entspricht.Ein Verzeichnis der Cafés, Restaurants, Tankstellen. (Das Spruchband fällt dir ein, das früher über eine ganze Innenwand der Bahnhofshalle lief: Besuchen Sie die Stadt der Seen und Wälder! Der Bahnhof ist neu, also anders, wieder aufgebaut. Der, den du kennst, soll kurz nach dem Einmarsch der Roten Armee von deutschen Flugzeugen zerbombt worden sein.) Ein großes Foto der Marienkirche, eins vom Stadttheater, wo sie zu Weihnachten den Froschkönig, die Schneekönigin oder das Tapfere Schneiderlein spielten und Nelly, die vor Aufregung Fieber hatte und nach der Vorstellung jedesmal krank wurde, ihr weißes Fellkrägelchen um die Schulter legen und in einer der vorderen Reihen sitzen durfte. Das Fell – weißgefärbtes Kaninchen – mit seinem Geruch fiel dir nach so vielen Jahren in dem Augenblick wieder ein, als die Sekretärin euch sagte, zwei Zimmer seien frei, beziehbar um sechzehn Uhr.
Es war genau zwölf Uhr mittags.
War das Lächeln auf dem Gesicht der Sekretärin ein Zeichen dafür, daß sie den Grund eurer Reise erraten hatte (was nicht schwer war), daß sie verstand, warum du dich so lange vor dem Foto eines Provinztheaters aufhalten konntest? Übrigens muß sie ja in deinem und Bruder Lutzens Ausweisen euren Geburtsort gelesen haben. Sie und ein junges Mädchen trugen eure Personalien in die Meldezettel ein. In Polen, sagte die Frau, bekämen die jungen Leute erst mit achtzehn Jahren einen Personalausweis, nicht schon mit vierzehn, wie Lenka. Das junge Mädchen nickte dazu.
Beide nett, sagt Lenka, als ihr wieder auf die Straße tretet. Die Sonne jetzt rechter Hand, genau über der Bahnhofsuhr. Die Hitze hat gewartet.
Wohin also jetzt?
Nach Hause: Lutz und du wie aus einem Mund.
Nelly – um zu ihr zurückzukehren – ist inzwischen in ihre Klasse eingetreten. Beklommen begibt sie sich unter die sicht- und anfaßbaren Gegenstände, über deren Schreibweise Herr Warsinski alleine befindet. (Wenn Herrn Warsinskis Name sich hinten mit y schriebe, kämen manche Leute auf die Idee, daß er polnischer Abstammung sein könnte. Da er sich mit i schreibt, ist das nicht der Fall. Die Hüftgelenkverletzung, von der er heute noch hinkt, hat ihm übrigens der Franzmann im Weltkrieg beigebracht. Jeder Stoß ein Franzos, jeder Schuß ein Ruß.)
Nelly liebt Herrn Warsinski. Er ruht unbeschädigt im Gedächtnisspeicher, und zwar in verschiedenen Posituren. Auf Kommando tritt er an. Brustbild: Die Warze links neben dem Kinn, die vollen, um nicht zu sagen, schlaffen Wangen, der Schwung der aschblonden Haarsträhne über dem rechten, übrigens wäßrig-farblosen Auge. Oder ganze Gestalt: Dann allerdings meist gehend, mit leicht nachschleppendem linkem Bein. Redend: Ich bitte mir Ruhe aus, und zwar gleich. Wir sind doch hier nicht in der
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