Kindheitsmuster
Bett: Schlauer hätte sie selber es auch nicht einfädeln können.
Bruno Jordan tritt in die Ruderriege ein. Dort muß er sich mit einem gewissen Gustel Stortz befreunden, der beim Katasteramt arbeitet und ein fideles Haus ist; dieser wiederum hat, wenn auch nur flüchtig (flüchtig! darauf kam es an!), die Mieze Heese zu kennen – ein gerissenes Stück, katholisch übrigens, daher falsch –, die zweite Buchhalterin bei Alfred Mulack ist, wenn auchnicht mehr lange, weil sie dem Juniorchef nachstellt, der allerdings schon ohne sie auf die schiefe Bahn geraten ist. Jedenfalls: Ihren fünfundzwanzigsten Geburtstag kann sie noch ganz groß feiern, Gott segne sie, Mieze Heese, falsch, wie sie war, intrigant, scharfzüngig, mannstoll und so weiter. Zwei Tischherren benötigt sie noch: Ihren flüchtigen Bekannten, den Gustel Stortz, der versprechen muß, seinerseits irgendeinen seiner Freunde mitzubringen, einen x-beliebigen – so lautet die Formel –, wenn er bloß tanzen kann. Bruno Jordan. Den, wohlgemerkt, das Geburtstagskind nicht von Angesicht, nicht einmal mit Namen kennt. (Auch Paule Madrasch wäre durchaus in Frage gekommen, Sparkassenangestellter, der auffallenderweise gerade an jenem Abend »unpäßlich« ist.) Bruno Jordan, den Mieze Heese ihrer eingebildeten Kollegin Charlotte als Tischherrn zuweist, welche sie anstandshalber hat einladen müssen, obwohl sie ihr gestohlen bleiben konnte.
Man kann wohl sagen: Das Gröbste war getan, und der liebe Gott konnte sich eine Pause gönnen.
Bruno Jordan kam als Kavalier gekleidet, in Frack und Klack. Er brachte der Gastgeberin Rosen, er stand auf, wenn seine Tischdame sich erhob, er schob ihr den Stuhl zurecht, wenn sie sich zu setzen wünschte, und er legte ihr von den Salaten vor. Er tanzte häufig mit ihr, und er wußte sich nach dem Tanz zu verbeugen. Dies alles muß Balsam auf ihre Seele gewesen sein, die – stolz, aber nicht unverwundbar – sich geschworen hatte: Alles kann er sein, bloß kein gewöhnlicher Mensch. Noch als Betrunkener – denn das war er gegen Mitternacht – muß er eine erträgliche Figur gemacht haben, wenn auch der selbstgemachte Johannisbeerwein ihmglatt die Beine wegschlug, als er an die frische Luft trat. Doch bestand er darauf, seine Dame zu begleiten.
Erstaunlich, daß sie sich bringen läßt. Doch dem lieben Gott, der weiß, was er will, ist kein Ding unter der Sonne unmöglich. Auch unter dem Mond kein Ding. Der scheint ja auf die Steinbalustrade vor dem Haus Küstriner Straße 95, die du im Vorbeifahren besichtigt hast, denn es steht alles noch: die Balustrade, dahinter der kümmerliche Vorgarten mit Buchsbaum und Rhododendron, das Haus selbst. Der Torweg, durch den es zur Mulackschen Käsefabrik geht, welche sich auf dem Hof befunden hat. Auf dieser Balustrade also setzt Charlotte Menzel in einer warmen Juninacht des Jahres 1925 ihren, gelinde gesagt, angetüterten Tischherrn ab, peest selber zur Haustür, die sie eilig auf- und hinter sich wieder zuschließt, rast die Treppe hoch (erster Stock), schließt, wieder brandeilig, die Wohnungstür auf und zu, schleicht leise, aber so schnell sie kann, den Flur entlang zu ihrem Zimmer, stürzt ans Fenster, blickt hinunter und sieht – na? (Nelly muß unter die Decke kriechen, um ihren Bruder nicht durch lautes Kichern zu stören.) Na? Was sieht Charlotte? – Nichts. Kein Bruno auf der Balustrade. Der blanke bleiche Mondschein streicht über die Steine. Sonst nichts. Bis an ihr Lebensende wird Charlotte sich nicht erklären können, wohin ihr Tischherr so schnell geraten ist.
Und auch er, Bruno Jordan, wird es ihr nie erzählen können. Denn es beginnt – Nelly glaubt es, o ja, brennend glaubt sie es – die zweite Erinnerungslücke im Leben ihres Vaters. Sie umfaßt den Zeitraum von fünf Stunden und dreißig Minuten, denn Punkt sechs Uhr dreißig beginnt zur Sommerzeit im Stadtpark der Dienstder städtischen Parkwächter: Abfälle einsammeln, Wege harken, Papierkörbe leeren, Verbotsschilder aufrichten und so weiter. Derjenige, welcher an jenem Morgen fünf Meter vom Rand des Schwanenteichs entfernt auf eine Wasserleiche stieß, war Parkwächter Nante, Nante mit der roten Neese, Suffkopp Nante, der mit erhobener Schaufel unter die Leute stürmt, wenn er seinen Namen rufen hört: So jedenfalls wird Nelly ihn kennenlernen, die fürs erste noch mehr als dreieinhalb Jahre im Großen Teich schwimmen muß. Nante aber, welcher es für seine Pflicht gehalten hat, den offenbar
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