Kindheitsmuster
verstecken, daß es Zeiten gegeben haben muß, an denen sie nicht teilhatte. Da warst du einfach noch nicht da – das ist schnell behauptet, doch schwer zu begreifen. Wo, wo konnte sie denn gewesen sein? – Jeder Mensch ist zuerst nicht da, befindet Frau Elste, bis seine Eltern heiraten. – So ist es also denkbar, daß zwei Eltern sich gar nicht treffen, auch nicht heiraten und einem bestimmten – zum Leben bestimmten – Menschen die Möglichkeit, auf die Welt zu kommen, einfach entgeht? – Dummchen! So was passiert alle Tage. Nimm doch bloß mal die vielen Kinder, die nicht geboren werden konnten, weil ihre Väter als junge Soldaten gefallen sind. – Was denken die Kinder, die nicht geboren werden? – Aber nichts! – Nichts? – Begreif doch endlich: Was nicht da ist, kann auch nicht denken, nicht fühlen, überhaupt nichts.
Das war nun das Trostloseste, was man ihr hätte mitteilen können. Nelly mußte ernste Vorkehrungen treffen, daß sie nicht davon vernichtet wurde. Sie sah ein, daß sie ihre Phantasien nicht jede Nacht an den Punkt treiben konnte, wo sie selber in Gefahr kam, in den Großen Teich zurückzusinken. Es war mehr als eine einfache Gesetzesübertretung, das spürte sie genau. Es war ein ernster, vielleicht der ärgste Frevel, sich Nacht für Nacht die Rückführung aller ihrer Körperteile ins Nichts vorstellen zu müssen und dabei in Kopf und Gliedern jenes flimmernde Kreisen zu empfinden, das durchaus nicht nur lästig war, sondern, je schneller es wurde, recht schön. Recht süß, recht wonnevoll, recht verlockend. Den Knall, würde sie ihn noch hören, dersie sprengen mußte, ließe sie sich nur um ein winziges schneller kreisen?
Das Risiko war zu groß. Eines Abends drohte sie sich selber damit, daß sie sich am nächsten Tag ein Bein brechen werde – wovor ihr schauderte, das Krachen der Knochen! –, wenn sie nicht aufhören würde mit dem Spiel. Gegen Gedanken konnten nur andere Gedanken helfen. Wenn es den Kitzel der Selbstzerstörung gab, gab es doch auch die Wonne der Selbsterschaffung. Es gab eine Zauberkette, deren einzelne wunderbare Glieder der liebe Gott persönlich zusammengefügt hatte, um eines schönen Tages ein Kind aus dem Großen Teich zu ziehen, an dem ihm anscheinend wirklich gelegen war und das sie dann Nelly nannten. Für eine Person, die ihm gleichgültig gewesen wäre, hätte er sich kaum die Mühe gemacht, zwei schier endlose Reihen glücklichster Zufälle so geschickt miteinander zu verknüpfen, daß sie in ein Wunder mündeten.
Der liebe Gott scheute sich nicht, dem großen Wunder eine Anzahl kleinerer vorauszuschicken. Denn ein Wunder war es, das sagte Bruno Jordan selbst, daß er vor Verdun aus dem Schlamassel gekommen war; daß Wildfremde, Handlanger der höheren Absicht in verdreckter Soldatenuniform, den Vater, der noch kein Vater war, aus seinem eingestürzten Unterstand herausbuddelten, in dem er bewußtlos lag; daß sie ihn ins Lazarett schleppten, so daß er zwar Teile seines Erinnerungsvermögens, nicht aber sein Leben verlor; daß auch seine beiden Ausbruchsversuche aus der französischen Gefangenschaft zwar mit seiner Ergreifung, mit Hungerkarzer, nicht aber mit seinem Tode endeten. Und daß er auch die erste Erbsensuppe, die im »Weinberg«-Saalan die verhungerten Heimkehrer ausgegeben wurde, überlebt hatte – qualvoll würgend zwar, in der Angst, sein letztes Stündlein habe geschlagen, doch überlebt. (Immerhin war er, zweiundzwanzig Jahre alt und um seine beste Jugend betrogen, bei seiner ersten Heimkehr kenntlich für seine Angehörigen; bei seiner zweiten, achtundzwanzig Jahre später, war er es nicht.)
Die Aufgabe war: Diesen geretteten Soldaten, der als kaufmännischer Angestellter in das Kontor einer Großhandelsfirma eintritt, sich ein Spazierstöckchen mit Elfenbeingriff zulegt und einen runden Strohhut, Kreissäge genannt, und so angetan in den Lokalen der Stadt erscheint (»flott«, das war das Wort, das auf ihn paßte, er hat es oft benutzt, sich selber zu beschreiben), von dem Versuch besessen, seine verpaßte Jugend doch noch zu erwischen, als sei sie ein D-Zug, den man mit einem guten Rennauto einholen könnte – die Aufgabe war, diesen Menschen mit einer gewissen Charlotte Menzel zusammenzubringen: unverheiratet, fünfundzwanzig, erste Buchhalterin, bekannt für Tüchtigkeit und eiserne Grundsätze. Ein schönes Stück Arbeit. Nelly, die sich die Geschichte von ihrem glücklichen Ende her erzählen kann, kichert in ihrem
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