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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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unterwegs in den mitgenommenen Zeitungen vom 9. und 10. Juli 1971 blättertest: Die Namen der drei sowjetischen Kosmonauten, die am 30. Juni »in der planmäßig gelandeten Landekapsel tot aufgefunden wurden«, kamen nicht mehr vor. Du mußt sie dir in der Bibliothek aus dem Zeitungsband heraussuchen, um sie hierhersetzen zu können, sie, deren Unglück dir einmal die Tränen in die Augen trieb: Georgi Dobrowolski, Wladislaw Wolkow, Viktor Pazajew. Ein beliebiger Mann auf der Straße würde eher Namen aus dem Zweiten Weltkrieg hervorbringen, doch das ist schon eine Generationsfrage. Die Jugend – Namen ihrer musikalischen Idole?) Parallelaktionen.
    Die Friedrichstraße ist für die Beine der sechsjährigen Nelly lang. Für das Auto sind das alles keine Entfernungen. Ihr wollt ja auch zuerst mal ins Hotel. Also trennen sich beim oft zitierten Fröhlichschen Haus eure Wege: Nelly muß links daran vorbei, die Schlachthofgasse hoch, muß die Viehherde vorüberlassen, die ins Schlachthoftor getrieben wird. Muß die Soldiner Straße überqueren, in die Hermann-Göring-Straße einbiegen, um, pünktlich wie immer, die Mädchenvolksschule III (am Beginn der Adolf-Hitler-Straße) zu erreichen. Die erste Stunde heute soll Religion bei Herrn Warsinski sein.
    Ihr dagegen laßt den neuen Bau aus Glas und Beton, der da an Stelle des zerstörten Fröhlichschen Hauses steht, links liegen, habt zweihundert Meter der ehemaligen Küstriner Straße zu fahren. Das dauert nicht länger, als Lenka braucht, um mit ihrer hohen klaren Stimme zu singen: O FREEDOM, O FREEDOM, O FREEDOM. – Rechter Hand, irgendwo hier hinter der ersten Häuserreihe, lag übrigens die Bonbonfabrik von Onkel Emil Dunst. – Ein Onkel, der eine Bonbonfabrik hatte!
    AND BEFORE I’VE BEEN A SLAVE, I’VE BEEN BURIED IN MY GRAVE.
    Onkel Emil ist ja in den dreißiger Jahren mit Tante Olga, Bruno Jordans Schwester, aus Leipzig, der sächsischen Metropole, mit Sack und Pack nach L. zurückgekommen. Pleite natürlich. Wieder mal angewiesen auf die paar tausend Mark, die seine Schwiegereltern ihm um ihrer unglücklichen Tochter willen vorstreckten, damit er einen neuen Anfang machen und die Bonbonfabrik des Juden Geminder kaufen konnte. Eine miese Bude, wenn man Charlotte Jordan hörte; aber Emil Dunst und sein Geschäftspartner, der im Gegensatz zu ihm Kenntnisse in der Bonbonkocherei besaß, kriegten sie ja für billiges Geld, weil der Jude Geminder es eilig hatte, außer Landes zu gehen. Man schrieb das Jahr 37. Unrecht Gut gedeihet nicht. Da redete Schnäuzchen-Oma wieder mal, wie sie’s verstand. Ein anderer hätte dem Juden Geminder vielleicht überhaupt nichts gezahlt, so heiß, wie dem der Boden unter den Füßen war. Trotzdem, sagte Charlotte Jordan, die mit so was nichts zu tun haben wollte und wie Pilatus ihre Hände in Unschuld wusch. Pilatus aber, das hatte Nelly in derReligionsstunde von Herrn Warsinski persönlich erfahren: Pilatus hatte den Juden Jesus Christus ans Kreuz geliefert. Charlotte mochte es nicht, wenn ihre eigene Tochter ihr über den Mund fuhr.
    AND GO HOME TO MY LORD AND BE FREE !
    Später, Lenka, suchen wir auch den Eingang zu Emil Dunsts Bonbonfabrik, und ich erzähle dir, mit welch festlichen Gefühlen Nelly zugesehen hat, wie die roten und grünen Eisbonbons, frisch geschnitten, noch durchsichtig, warm und klebrig aus der Maschine kamen, in die sie als heiße, zähflüssige Massen aus großen Bottichen hineingeflossen waren. Und wie sie abends gesessen – Nelly, die Mutter, Schnäuzchen-Oma und manchmal auch Lutz – und Bonbons gewickelt haben, die Onkel Emil Dunst am nächsten Morgen versandfertig mit seinem Dreiradlieferauto abholen wollte. – Klasse, sagte Lenka. – Oder wie die Weinbrandbohnen, in Sechserreihen, frisch mit glänzendem Schokoladenguß überzogen, auf einem Transportband quer durch die Produktionshalle liefen, wobei sie getrocknet wurden, daß sie nebenan von zwei Packerinnen in Kartons verpackt werden konnten. Diese beiden standen übrigens durch eine Glaswand unter der Aufsicht von Tante Olga, die im Kontor thronte und die Bücher führte. Tante Olga, die vor unseren Augen dick und dicker wurde, was manchmal auf eine Über-, manchmal auf eine Unterfunktion gewisser nicht näher bezeichneter Drüsen zurückzuführen war; Tante Olga, die sich nun zu einer königlichen Kinnhaltung gezwungen sah, aber all die Jahre über flinke schlanke Finger behielt.
    Die eine der beiden Packerinnen war ja übrigens Frau Lude: ein

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