Kindheitsmuster
Ertrunkenen wenigstens probeweise an der Schulter zu rütteln, sieht mit einigem Entsetzen die junge Wasserleiche sich erheben, zum Teichesrand gehen, um sich Gesicht und Hände zu waschen und das Haar glattzustreichen, auf das dann akkurat die Kreissäge zu sitzen kommt, die der verdatterte Nante dem Auferstandenen zureicht, wofür ihm, da Hartgeld nicht zur Verfügung steht, eine angebrochene Schachtel JUNO in die Hand geschoben wird. Un ick dacht, du wärst ’ne Leich, soll der arme Nante im ersten Schrecken mehrmals laut vor sich hin gemurmelt haben. Er war ein gänzlich uneingeweihter Handlanger der höheren Absicht.
Nun aber kommt überhaupt erst das Wichtigste. Um sieben Uhr dreißig, als Charlotte Menzel ihr Büro betritt, klingelt auf ihrem Schreibtisch das Telefon. Es meldet sich ihr Tischherr von heute nacht und wünscht mit klarer, flotter, ausgeschlafener Stimme einen recht schönen guten Morgen. Wie es sich gehört. Bedankt sich für den wunderschönen Abend, den sie ihm gewidmet hat. Und stellt dann die Frage, die – wenn man den Ton bedenkt, in dem Charlotte sie über die Jahrzehntehin wiederholt hat – alles entschieden haben muß: Wo, glauben Sie, Fräulein Menzel, habe ich heute nacht geschlafen?
Etwas Unwiderstehliches war an dem Menschen, das fand auch seine künftige Schwiegermutter, Auguste Menzel, Schnäuzchen-Oma, die mit den beiden Verlobten und dem Hund Schnäuzchen (einer Art Verlobungsgabe des Käsefabrikanten Alfred Mulack, dem ein Geschäftsfreund vom Balkan dieses für ihn unverwendbare Tier mitgebracht hatte) vierzehn Tage im Ostseebad Swinemünde verbrachte, wo ihr Schwiegersohn, der die kleine rundliche Frau um mehr als Haupteslänge überragte, sich vor Strandkörben mit ihr fotografieren ließ, in der linken Hand schon wieder die Kreissäge, den rechten Arm frank und frei um ihre Schulter gelegt.
Dieses Foto hat Nelly irritiert, sooft sie es betrachtete. Es war dieselbe Irritation, die sie von den Märchenschlüssen her kannte, wenn sich der Befriedigung, daß alles sich so wohl gefügt, daß man sich nach Aufregungen und ausgeklügelten Prüfungen in die Arme gesunken war, doch, kaum eingestanden, ein kleines bißchen Enttäuschung beimengte, spätestens bei der Schlußbemerkung: Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch – die, ehrlich gesagt, doch ein wenig trocken, schal und nichtssagend war. Womöglich hätte sie unterbleiben können. So wie vielleicht auch Bruno Jordans Arm auf seiner Schwiegermutter großgeblümtem Sommerkleid hätte unterbleiben können; oder wenigstens die Kreissäge in seiner linken Hand. Nelly wußte es nicht genau, und sie wollte es auch nicht genau wissen. Wer war sie, an den Schlüssen der Märchen herumzumäkeln?Es mochte übrigens vor allem an den Strandkörben liegen. Als ob die sich hinter dem Rücken der Fotografierten zu einem Chor zusammentaten, der flüsterte: Und wenn sie nicht gestorben sind ...
Nein. Es lag daran, daß jedesmal zugleich mit jenem Swinemünder Strandbild ein anderes Foto vor Nellys innerem Auge erschien: ein im Jahre 1923 bei Richard Knispel, Richtstraße 81, hergestelltes Kunstporträt ihrer Mutter, das – zufällig oder nicht – über lange Jahre unter Glas in Schnäuzchen-Omas Wohnstube hing. Nelly hat es auswendig gelernt, für Zeiten wie diese, da es nicht mehr existiert. Daß der sanfte Braunton über dem Ganzen zu Lasten des Herrn Fotografenmeisters Knispel geht, ist ihr klar. Trotzdem verfehlt er nicht seine Wirkung auf sie. Vor allem aber: Ist es denkbar, daß ihre Mutter Lebenszustände gekannt hat, da sie es über sich brachte, in einem solchen bräunlichen Kleid mit weißem Brusteinsatz und Spitzenkragen, vor allem aber mit einem derartigen Wagenrad von Hut (der ihr stand – und wie er ihr stand! doch seit wann achten Mütter darauf, was ihnen steht?) – so angetan also über die Richtstraße zu wandeln und in Knispels Fotoladen einzutreten, um ein Kunstporträt zu verlangen. Mit Hut.
Daß ihre Mutter in jeglicher Aufmachung schön war, sah ein Blinder mit dem Krückstock. Warum es Nelly aber derartig tröstete, daß sie es einstmals darauf angelegt hatte, schön zu sein (nicht nur der Hut. Nein: der Blick vor allem, dieser Blick schräg unter dem Hut hervor!) – das wußte sie nicht. Jedenfalls nahm dieser Blick mit den Jahren einen schmerzlichen Ausdruck an, zu dem Nelly gegen ihren Willen zwei Zeilen aus Frau ElstesLieblingslied einfallen: »Und Marmorbilder stehn und sehn dich
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