Kindheitsmuster
Dreiermarschkolonne ihr das Ausmaß ihrer Verirrung vor Augen führt und Herr Warsinski sich veranlaßt sieht, eine seiner gefürchteten Fragen zu stellen, auf die sie nicht antworten kann, weder durch begütigend verlegenes Lächeln noch durch beschwichtigende Gesten, am wenigsten durch irgendein Wort: Er fragt, ob sie ihn vielleicht verhohnepipeln will?
Warum nur ist es ihr nicht gegeben, das Gegenteil zu beteuern. Oder nach seiner Hand zu fassen, was die demütige Christel Jugow fertigbringt, sogar wenn er ihr eine Ohrfeige gegeben hat, und was ihm nicht unlieb zu sein scheint, auch wenn er sie wegzieht, die Hand. Manchmal denkt Nelly, er merkt, daß sie etwas von ihm weiß. Dann muß sie schnell die Augen niederschlagen, um sich nicht zu verraten. Das kann von ihm wiederum als schlechtes Gewissen ausgelegt werden. Kannst du einem nicht in die Augen sehen, zum Kuckuck noch mal. Hast wohl was zu verbergen!
Herr Warsinski merkt alles. Einmal will er wissen, wer sich morgens den Oberkörper eiskalt wäscht, um sich abzuhärten, wie es sich für ein deutsches Mädel gehört. Nelly ist nicht unter denen, die stolz die Hand heben können, und wird einzeln getadelt: Was, auch du nicht? Das enttäuscht mich aber, und zwar besonders von dir. Der sportlich erzogene Mensch beider Geschlechter ist der Staatsbürger der Zukunft. Adolf Hitler.
Ist es ein Fortschritt, daß Nelly sich bei Herrn Warsinski immerhin durch die Enttäuschung auszeichnet, die sie ihm bereitet? Fragen dieser Art kann sie der empörten Mutter nicht unterbreiten, die ihr zu beweisen sucht, daß das Wasser, das früh aus ihrem Badeofen läuft, beinahe kalt ist. Eigentlich überhaupt kalt. Aber eben nicht eiskalt. – Eiskalt! Na und? Das mußt du vor der ganzen Klasse ausposaunen, ja? Hier, halt die Hand drunter: Ist das kalt oder nicht?
Lauwarm, sagt Nelly.
Aber doch mehr kalt als warm!
Jedenfalls nicht eiskalt.
Charlotte muß sich Gedanken machen über den Wahrheitsfimmel ihrer Tochter, während Nelly, vielleicht ohne es zu merken, ihre Anstrengungen vergrößert, Herrn Warsinskis Erwartungen an sie zu erraten. Es erweist sich als schwierig, mit Lenka darüber zu reden: Ihre Versuche, sich in dieses Kind hineinzudenken, müssen fehlschlagen. Der Gedanke, man könne sich nach einem Beweis von Lehrergunst verzehren, ist ihr einfach fremd, sie hält es für einen blühenden Schwachsinn. Und was ihr Verhältnis zur Wahrheit betrifft, so war es von früher Kindheit an lax. Sie hat, wenn sie es für richtig hielt, schon immer auf beinahe unglaublicheWeise lügen können, ohne je zu zweifeln, daß sie im Grunde ein ehrlicher Mensch ist: Sie unterscheidet zwischen Haupt- und Nebensachen.
Du erinnerst dich an ihre Empörung, als Ruth, ihre ältere Schwester, eines Tages einen Grundsatz unterbreitete, den ihr Deutschlehrer, Herr M., unter vier Augen allen Ernstes vertrat: Daß man imstande sein müsse, ein schwaches Gedicht, nur weil es zu den Themen der Abituraufsätze gehörte, durch scharfsinnige Interpretation aufzuwerten. Hauptsache, man selber halte das Gedicht am Ende nicht für gut. Ruths Verwirrung, über die Lenka sich stärker entrüstete als über die Persönlichkeitsspaltung des Lehrers, war nur durch die Faszination zu erklären, die dieser Mensch auf sie ausübte. Er konnte der Klasse jede These beweisen, und in der nächsten Stunde ihr Gegenteil. Und er lächelte auf eine irritierende Art, wenn sie erfahren wollte, was er wirklich dachte. Dann wieder besteht er im Deutschkabinett auf einer neuen Sitzordnung, auf Auflösung der konventionellen Bankreihen, die jeden zwingen, seinem Vordermann auf den Hinterkopf zu sehen anstatt ins Gesicht; er läßt die Tische in Viereckform aufstellen und sitzt nun selbst nicht mehr an herausragender Stelle. Zwei Tage nachdem er sich umgebracht hat – Ruth hatte die Schule inzwischen verlassen –, findet Lenkas Klasse im Deutschkabinett die althergebrachte Sitzordnung vor: Die Aufräumefrau habe sich beschwert. Die Klasse stellt die Bänke zum Viereck auf, wird aber gezwungen, sie wieder in Reihen zu rücken. Lenka weint zu Hause. Kaum ist einer tot, machen sie alles kaputt, was er hinterlassen hat. Sogar den Zettel haben sie von der Tür abgenommen, auf dem er bat, die Sitzordnungnicht zu verändern. Später hat die Klasse sich doch durchgesetzt.
Als die Nachricht von Herrn M.s Selbstmord kam, hat nicht sie geweint, sondern Ruth.
Nellys Klassenzimmer. Du könntest es nicht beschreiben. Wahrscheinlich
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