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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Judenschule, zum Kuckuck noch mal! – Mit und ohne braune Uniform, mit und ohne Schulterriemen quer über einem leichten Bauchansatz. Wer mir bei der Flaggenehrung Schande macht, der kann aber was erleben. Unser Führer arbeitet Tag und Nacht für uns, und ihr wollt nicht mal zehn Minuten lang die Klappe halten können?
    Mit den zehn Minuten hatte Herr Warsinski sich etwas verschätzt, aber das machte überhaupt nichts und wird nur der Ordnung halber vermerkt. Zu Führers Geburtstagdauert die Flaggenehrung inklusive Ansprache von Rektor Rasenack gut und gerne ihre fünfundzwanzig Minuten. Dem Rektor und Amtswalter der NSDAP ist es sehr ernsthaft um die nordische Seele zu tun. Nelly friert ja nicht in ihrem grauen Krimmermantel. Sie hat auch schon zwei Rattenschwänze mit gelben Zopfspangen drin. Das ist natürlich an des Führers siebenundvierzigstem Geburtstag nicht von Wichtigkeit, aber Gundel Neumann, die Tochter des Arztes, hat richtige Zöpfe, übrigens sogar blonde. Ihr gelingt alles mit Leichtigkeit, was andere sich vergeblich wünschen. Ihr legt zum Beispiel Herr Warsinski ohne besonderen Grund nur so im Vorbeigehen die Hand auf die Schulter. Seele ist Rasse von innen gesehen. Rasse ist Seele von außen gesehen. Rektor Rasenack hat einen runden Kopf, ein kleines dunkles Bürstenbärtchen auf der Oberlippe und eine kleine, doch allmählich sich vergrößernde Glatze. Da kommt ihm die Kniescheibe durch, würde Bruno Jordan sagen, wenn es sich nicht gerade um den Rektor handelte. Wer wirklich ergriffen ist, denkt jetzt sicherlich nicht daran, daß er im Zeigefinger des rechten roten Wollhandschuhs ein Loch hat und diesen Handschuh abkriegen muß, ehe die Flaggenehrung beginnt und alle rechten Hände in die Luft fliegen. Wer wirklich ergriffen ist, sieht sicherlich nicht, daß dem Jungmädel, welches nun zur Fahne tritt, rechtsseitig der Unterrock mindestens zwei Zentimeter vorguckt; der würde den Blick auf des Mädchens leuchtende Augen heften. – Mein Wille ist euer Glaube. Adolf Hitler.
    Heißt Flagge.
    Danach dann wieder, all die Zeit über erwartet, die Kalamität mit Nellys rechtem Arm. Daß ihre Armmuskelnimmer etwas schwach bleiben, soll wahr sein. An Barrenschwünge und Liegestütze war auch später kaum zu denken. Jedoch ihn hundert Sekunden lang nach vorne oben gestreckt zu halten, solange Deutschlandund Horst-Wessel-Lied eben andauern, das mußte sie ihrem Arm wohl abverlangen können. Bei Maas und Memel, Etsch und Belt ging es noch an. Deutschland, Deutschland, über alles riß auch lahme Arme jubelnd wieder hoch. Aber die Wiederholung der ergreifenden Behauptung: Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen, marschiern im Geist in unsern Reihen mit! – die zwang Nelly, mochte kommen, was da wollte, ihren rechten Arm mit dem linken zu stützen, und dies war unfehlbar die Sekunde, da Herr Warsinski zu ihr herüberblickte. – Die Hakenkreuzfahne wird in hundert Jahren das Herzblatt der deutschen Nation geworden sein. Adolf Hitler.
    Den Befehl, ihren Arm gefälligst zu Hause zu trainieren, befolgt Nelly getreulich und bringt es dahin, daß sie alle drei Strophen beider Hymnen mit erhobenem rechtem Arm durchgestanden hätte. Nur wird das leider niemals von ihr verlangt. Sowenig wie Herr Warsinski auf die naheliegende Idee kam, in seiner Klasse einen Wettbewerb im Luftanhalten zu veranstalten. Da wäre denn zutage getreten, daß Nelly es in dieser Disziplin auf Rekordzeiten brachte, anderthalb Minuten und mehr. Oder daß sie den schwierigen Satz »Der Potsdamer Postkutscher putzt den Potsdamer Postkutschkasten« zehnmal hintereinander fehlerfrei und in atemberaubender Geschwindigkeit aufsagen konnte. Oder daß eine Persönlichkeit wie Blendax-Max sich speziell für sie interessierte. Nachdem sie ihm die erforderliche Mengevon zehn Blendax-Bildern zugesandt hatte, gratulierte er ihr pünktlich zu jedem Geburtstag. Blendax-Max zur Stelle ist, Blendax-Kinder nicht vergißt.
    Die Zähne mit Chlorodont zu putzen wäre ihr, als Verrat, undenkbar gewesen. Blendax-Kinder nah und fern haben Blendax-Maxe gern.
    Alle ihre Fähigkeiten bedeuten vor Herrn Warsinski rein gar nichts, während er jede ihrer Schwächen tadelnd vermerkt. Eines Tages marschieren ihre Dreien nicht aufrecht in Reih und Glied in den roten Kästchen der Schiefertafel, sie schweben über den Zeilen wie gutgläubige Schwalben, und was das schlimmste ist: Nelly begreift überhaupt nicht, was da beanstandet wird, bis Ursels ordentliche

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