Kindspech: Tannenbergs achter Fall
braucht dringend eine Reform«, posaunte er in Richtung der Küche, »und zwar eine, die den Namen auch wirklich verdient.« Die Tür öffnete sich, und Heiner wandte sich seinen Eltern zu. »Kommt rein, meine Lieben«, empfing er sie freundlich. Doch als er in ihre todtraurigen, kreidebleichen Gesichter blickte, kamen ihm die nächsten Worte nur noch abgehackt und leise über die Lippen: »Wir … sind … gerade …«, sagte er mit einer mechanischen Klangfärbung. Er räusperte sich. »Was ist denn mit euch los?« Ein Ruck ging durch seinen Körper. »Ist irgendwas Schlimmes passiert?«
Die beiden Alten nickten stumm und drückten sich an ihm vorbei in den Flur.
»Wo ist Emma?«, hörten sie Heiners Stimme im Rücken.
Schlagartig erstarb das Gespräch in der Küche. Wie von einer Tarantel gestochen sprang Marieke auf und stürmte zu ihrer Großmutter. »Was ist mit Emma?«, brüllte sie. »Wo ist Emma? Warum bist du allein?«
»Sie ist …« Die alte Frau vergrub das Gesicht unter ihren faltigen Händen. Sie zitterte wie Espenlaub und stieß einen leidgetränkten Schrei aus. Greinend vollendete sie: »entführt worden.«
»Was?«, keuchte Marieke.
»Ja. Und ich bin an allem schuld«, wimmerte Margot. »Weil ich nicht genug auf sie aufgepasst habe.« Sie wurde von einem heftigen Weinkrampf überfallen und sackte in sich zusammen.
»Wo?«, schrie Max. Er schnellte von der Eckbank in die Höhe. Seine Kaffeetasse fiel dabei um, woraufhin sich ockerfarbene Brühe über den Frühstückstisch ergoss.
»Im Stadtpark«, gab Jacob anstelle seiner Frau zurück.
»Wie konnte so was passieren? Wo warst du denn?«, schimpfte Betty mit aggressivem Unterton.
Margot spürte einen heftigen Stich in der Herzgegend. Sie fasste sich unter die Brust, hechelte und schwankte bedrohlich. Heiner und Jacob stützten sie von beiden Seiten und führten sie zum Esstisch. Wie von einer zentnerschweren Last gedrückt, sank sie auf die Eckbank nieder. Sie glich einem Häuflein Elend.
Ihre Gesichtszüge hatten sich in der letzten Stunde noch tiefer in die blassgraue, verwelkte Haut eingegraben. Jacob holte ihr ein Glas Wasser. Sie trank mit kleinen Schlucken, während sich ihr hektischer Atem ein wenig beruhigte. Die Hände unter der Tischplatte versteckt, schilderte sie mit abgehackten, immer wieder von lautem Wehklagen unterbrochenen Sätzen die dramatischen Ereignisse. Gebannt lauschten die versammelten Familienmitglieder ihren Worten.
»Dich trifft keine Schuld, Mutter. Du konntest doch überhaupt nichts machen«, versuchte Heiner seiner Mutter ein wenig Trost zu spenden. »Das hätte jedem von uns genauso gut passieren können.«
Margot nickte dankbar. So als habe man plötzlich den dunklen Schleier von ihrer Seele entfernt, verflüchtigte sich ihre Verzweiflung einen Moment lang, doch dann folgten neue Tränen und tiefes, keuchendes Schluchzen. »Es ging alles so schnell«, stieß sie mit gebrochener Stimme aus.
»Was sollen wir denn jetzt bloß machen? Können wir überhaupt etwas Sinnvolles tun?«, fragte Max nahezu tonlos. In seinen geröteten Augen schimmerten Tränen. Er wiegte Marieke im Arm und streichelte ihr zärtlich über den Hinterkopf.
»Wolfi kümmert sich schon um alles«, erklärte Margot und tupfte sich die Feuchte von den Wangen. »Ich hab ihn sofort verständigt.«
»Gut, dann können wir wohl nichts anderes machen als warten. Ich ruf ihn jetzt gleich mal an«, meinte Heiner und ging zum Telefon, das unweit der Küchentür auf einer Flurkommode stand.
Margot erinnerte sich daran, dass ihr Sohn im Stadtpark mit dem Handy der Hundebesitzerin telefoniert hatte. »Er hat sein Handy nicht dabei.«
»Dann ruf ich in der Zentrale an. Die werden wohl hoffentlich wissen, wo er steckt.« Da Heiner jedoch die Telefonnummer der Einsatzzentrale nicht parat hatte, wählte er die Notrufnummer der Polizei. Der Beamte versprach, den Leiter des K 1 umgehend zu benachrichtigen.
Kaum eine Minute später meldete sich Tannenberg und teilte seinem Bruder in knappen Sätzen mit, dass es sich bei der Entführung sehr wahrscheinlich um eine Verwechslung handelte. Deshalb bestünde durchaus Grund zur Hoffnung, dass der Täter Emma schon bald wieder freilasse. Umgehend gab Heiner diese Information an seine Familie weiter. Ein Fünkchen Hoffnung glimmte auf. Ohne auch nur ein einziges Wort darüber zu verlieren, nahmen alle am Tisch Platz und falteten die Hände zu einem stillen Gebet.
9 Uhr 50
Als sich die Zentrale
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