Kindswut
Ein Knie bohrte sich in meinen Rücken. Es tat sehr weh. Mir blieb die Luft weg. An den Haaren wurde mein Kopf nach hinten gerissen. »Keine Bewegung!« Man legte mir Handschellen an. Es ging blitzschnell. Ich konnte nicht reagieren. Ich war sehr überrascht. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich wurde hochgerissen. Vor mir stand die Kommissarin. Eilfertig drehte sie sich mit einer Hand eine Zigarette. Sie war ein Eichhörnchen in ihrem vorigen Leben, dachte ich.
»Abführen!« So hatte ich mir das alles nicht vorgestellt. Aber was sonst? Ich wusste es nicht. Philip hatte seine Mutter auf dem Marktplatz hingerichtet. Es war ein öffentliches Spektakel. Er hatte ihr ein Denkmal gesetzt. Das Krustenschrankdenkmal. Eigentlich müsste man die Trümmer anzünden. Die Überreste der Frau Stadl würden verbrennen. Das Grab der unbekannten Mutter. Über das Geländer gebeugt, schaute der Sohn zu. Die Geschichte war beendet. Ich kannte nur ihre äußere Hülle, die Trümmer, ein paar Spuren, ein paar Opfer, zerstörte Leben. Den wahren Inhalt der Geschichte kannte ich nicht. Was war die Wahrheit? Wer trieb wen wohin? Ich hatte kein Urteil. Ich wurde über den Platz zu einem Polizeiauto geführt. Vorne saß die Kommissarin, neben mir der Gelbgesichtige, sein Kollege, der mit dem Mundgeruch, fuhr. Ich war ihm dankbar, dass er nicht neben mir saß.
Kapitel 14
Es war kurz und schmerzlos. Ich musste zwei Stunden auf einer Bank in einem Gang warten und wurde dann in einen kahlen Raum gebracht. Ich hatte mit einer längeren Wartezeit gerechnet. Die Kommissarin ließ Kaffee bringen und wir saßen uns an einem klapprigen Holztisch gegenüber. Die Stühle ächzten bei jeder Bewegung. Sie drehte eine Kippe nach der anderen und qualmte wie ein Schlot. Sie sah wieder etwas verhärmt aus, wie auf dem Friedhof, auf dem ich sie zum ersten Mal getroffen hatte. Sie tat einen tiefen Zug und stieß den Rauch aus, den sie dann mit der Hand verjagte.
»Sie rauchen zu viel.« Sie trank ihren Kaffee schwarz. »Haben Sie etwas Milch und Zucker?«
»Wir sind bei der Polizei.«
»Schon in Ordnung.« Ich nippte an der Tasse. Der Kaffee schmeckte bitter. Sie kam zur Sache. »Es war nicht Frau Stadl in dem Schrank, es war eine Puppe.« Sie paffte. Ich war überrascht. Die Puppe hatte sehr echt ausgesehen. »Ich ließ Sie verhaften. Ich hielt Sie zunächst für Philip. Ich kannte die Maske von dem Bild, das in der Wohnung hängt. Barbara hat mir erzählt, dass Philip sie trug. Der Irrtum hatte sich ja schnell aufgeklärt.« Sie grinste geradezu unverschämt und hatte wieder einen Tabakbrösel auf der Oberlippe. Der Tabak blieb hängen, als sie mit der Zungenspitze die Gummierung des Zigarettenpapieres anfeuchtete. Sie spuckte den Brösel weg. Kurz und knapp. »Frau Stadl wurde in die Psychiatrie eingeliefert. Frau Jodler vom Hospiz hatte die Feuerwehr benachrichtigt. Der psychiatrische Sozialdienst wurde eingeschaltet. Wir konnten im Übrigen die Spur von Frau Stadl bruchstückhaft zurückverfolgen. Sie war sehr umtriebig und stets auf Achse. Immer wieder in psychiatrischer Behandlung. Längere Aufenthalte in Kliniken. Die Zwillinge blieben unsichtbar. Wurden nie angemeldet. Eine Art Dauerquarantäne. Wir wissen nicht, wer sie versorgte. Besonders, wenn die Mutter abwesend war. Privatlehrer, Hausmädchen, keine Ahnung. Wären die Zwillinge verschwunden, keiner hätte es bemerkt. Niemand fragte nach. Auch die behandelnden Ärzte nicht. Ich will nicht übertreiben, aber man kann Kinder unbemerkt auf Müllkippen werfen. Die Diagnose von Frau Stadl kenne ich nicht. Noch nicht.« Sie schwieg und starrte plötzlich völlig abwesend vor sich hin. Dann haute sie mit beiden Fäusten auf die Tischplatte. »Verdammte Scheiße!«
Ich reagierte nicht. Was konnte ich sagen? Sie hatte vollkommen recht.
»Wer hat die Morde begangen? An Frau Körner, Dr. Frank, Vera Kalb? Wer hat die Sache mit Fricke arrangiert? Philip? Frau Stadl?«
Sie schaute mich lange an. Sie legte ihr Kinn in eine Hand, auf dem Ellenbogen abgestützt. »Ganz unter uns: War Philip der Täter, kann ich es ohne Skrupel wegstecken. Dem Jungen wurde Schreckliches angetan. Es ging um sein Überleben. Er kämpfte in einer aussichtslosen Situation. Tag für Tag. Mit dem Rücken an der Wand. Das hatte Format, diese Sache heute Abend. Welches Talent wurde da sinnlos verschwendet.« Sie schwieg wieder. »Philip hatte keine andere Wahl. Was zwischen Mutter und Sohn geschah, werden wir im Einzelnen wohl
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