Kindswut
mein. Dein lieber, aber schwieriger Sohn. Keineswegs. Sie war äußerst munter und zerbiss gerade den Rasen des Hospizes ›Sonnenschein ‹ . Vielleicht hatte sie auch längst den Teich leer gesoffen und die Kieselsteine zwischen den Zähnen einzeln zu Steinmehl zermahlen. Bei ihren Wutausbrüchen traute ich ihr alles zu. Sie war ein Vulkan, der bei Ausbruch jedes Leben unter glühender Lava begrub und als weithin sichtbares Zeichen ihrer allgegenwärtigen Präsenz, der sich jeder bedingungslos unterzuordnen hatte, flatternde Aschefahnen hisste. Die grauschwarzen Fahnen des Todes. Ich und sonst niemand. Ich wusste nicht, ob Philip die Kraft hatte, sich ihr zu widersetzen. Sie würde es nicht dulden. Ihn zerstören. Vielleicht hatte er sich gewehrt, und es war mit ihm längst zu Ende. Sie hatte allen ein Ende gesetzt, die ihr in die Quere kamen. Körner, Vera Kalb, Dr. Frank. Oder war es doch Philip? Ich glaubte es nicht. Nein, ich war mir sicher. Nein, ich wusste es nicht. Barbarische Fantasien, mitten im Leben ganz wahrhaftig angesiedelt. Ich war ein Teil davon. Ich war da reingeschliddert, weil ein Grabredner zu besoffen gewesen war, seine Rede zu halten. Und ich nicht nein sagen konnte. Ich hätte die Stadl auch nie in ihre Wohnung begleiten dürfen. Ich war mitgelatscht. Sie roch so gut.
Der Ku’damm war ein Mausoleum. Verglaste Grabkammern mit Auslage, die nie ein Kunde betrat. Kein Fuß schlüpfte in den Budapester Schuh. Die Verkäuferinnen lungerten umher wie gelangweilte Katzen in ihren Käfigen. Im Ikonengeschäft paradierten schwarzgesichtige Heilige, Kante an Kante, mit goldenem Heiligenschein, drei Finger zum Schwur gehoben. Der vormalige Besitzer, ein stattlicher Russe, wurde erschossen. Er schaffte es gerade noch bis auf den Bürgersteig. Dort brach er zusammen. Kein Heiliger half ihm.
Mit ihr hatte ich nicht gerechnet. Über den Adenauerplatz kam Maria angeflattert in ihrem schwarzen Mantel. Blutrot der Mund, auf den ich schaute. »Mal wieder so rot, mein Schatz?« Das machte sie verlegen.
»Vom Lippenstift!«, hauchte sie.
»Alles Ausrede. Du hast wieder genuckelt. Gib’s doch zu. Wessen Hals war es denn?« Jetzt errötete sie wie ein Mädchen. Ich hatte sie noch nie mit einem Mann gesehen. In Umarmung. Bestimmt hatte sie im Geäst eines der Kastanienbäume gesessen, die den Ku’damm säumten, und mich abgepasst.
»Wo kommst du denn her?«
»Aus meiner Praxis. Gibt es was Neues?«
»Gerade hat mir die Stadl von dem Zwilling erzählt, den sie Philip entrissen haben. Du hast mit deiner Vermutung richtig gelegen.«
Jetzt sprach die Analytikerin aus ihr. »Sie hat es aus Scham getan!«
»Wer hat was aus Scham getan?«
»Die Stadl hat sich geschämt. Sie wollte keinen debilen Krüppel zum Sohn. Leugnung seiner Existenz. Philip als Hüter. Es war eine bequeme Symbiose. Der Gesunde hütete den Debilen.« Sie schaute beim Sprechen unter sich. Sie rotzte die Sätze nur so weg auf das Trottoir. »Philip hatte nur diesen Bruder. Den Zwilling. Sein Ebenbild. Sonst niemanden.«
»Alles nur Vermutungen.«
»Keine Vermutungen. Ich denke, sie hat es bestätigt?«
»Okay, hat sie.«
»Stell dir den Wahnsinn vor, den er erlebt hat. Kannst du es? Niemand kann es. Es sind fremde Welten, sie existieren, überall, Wand an Wand, von Tür zu Tür, unentdeckte Inseln. Direkt vor unserer Nase. Keiner will wissen, wo die Inseln sind. Die Zeitungen sind täglich voll davon. Alle geilen sich daran auf. Statt anzuklopfen, die Türen einzutreten. Als gäbe es keine Landkarten von Haustür zu Haustür. Weite Wege sind das nicht.« Sie schwieg. Sie war erregt. Aufgebracht. Sie hatte Herz. Dafür liebte ich sie. Sie war selbst von einem unentdeckten Kontinent, der gerade um die Ecke lag. »Die Existenz von den beiden ist nicht einmal belegbar! Es gibt sie nicht!«
»Sagt die Polizei!«
»Eben!«, ätzte sie. Ich holte tief Luft. »Ich habe Philip gesehen! Wir haben ein Konzert gegeben! Auf der Terrasse! Er hat mir eine Abschlachtung vorgespielt! Er spielt meisterlich Akkordeon! Und gerade vor wenigen Minuten hat mir Frau Stadl von dem Zwilling, dem Krüppel erzählt!«
»Beweise es!«
»Du hast ihn doch auch gesehen! Barbara hat ihn behandelt.«
»War er es?«, konterte sie. »Es reicht doch wohl, wenn ich sage, dass ich ihn gesehen habe!«
»Woher weißt du, dass er es war? Frau Stadl kann viel behaupten!«
»Warum hat sie mich zu ihm in die Wohnung gebracht?«
»Keine Ahnung. Vielleicht war sie auf dem
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