Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist
ziellose Handbewegung.
»War das in Santa Teresa? Vielleicht könnte ich Ihnen helfen, wenn ich es verstünde.«
»Der Weihnachtsmann ist eigens zu uns gekommen und hat uns allen einen Strumpf voller Süßigkeiten gebracht. Ich hab ihr meinen gegeben.«
»Wem? Emily?«
»Sprich nicht über Emily. Sag nichts weiter. Es war das Erdbeben. Alle haben es gesagt.« Sie entzog mir die Hand, und ein listiger Ausdruck trat in ihre Augen. »Ich habe Arthritis in der Schulter und im Knie. Meine Schulter war zweimal gebrochen. Der Doktor hat sie nicht angefasst, nur geröntgt. Ich habe den grauen Star gehabt, bin mindestens zweimal operiert worden, aber ich habe noch nie eine Zahnfüllung gebraucht. Schau selbst mal.« Sie öffnete den Mund.
Klar, keine einzige Zahnfüllung, was keine große Kunst ist, wenn man keine Zähne hat.
»Sie scheinen für Ihr Alter noch ziemlich gut in Form«, sagte ich, um mich auf das Spiel einzulassen. Was wir da betrieben, war gewissermaßen Flippern mit Worten, wobei das eigentliche Thema die Kugel war, die wild herumsauste.
»Lotti war die andere. Sie war einfältig, lächelte aber immer strahlend. Der liebe Gott hat ihr nicht mal so viel Verstand gegeben wie einem Ziegenbock. Sie ging zur Hintertür raus und wusste nicht mehr, wie sie wieder ins Haus kommen sollte. Saß dann auf den Verandastufen und heulte wie ein junger Hund, bis jemand sie reinließ. Dann heulte sie, weil sie wieder raus wollte. Sie war die Erste. Ist an Grippe gestorben. Ich vergesse immer, wann Mutter starb. Sie hatte nach Vaters Tod einen Schlaganfall, weißt du. Er wollte das Haus behalten, aber davon wollte Emily nichts wissen. Ich war die Letzte und hab nicht widersprochen. Vor Sheila war ich auch nicht richtig sicher, aber dann hab ich’s gewusst. Damals bin ich gegangen.«
Ich sagte: »Hmm-hm« und versuchte es dann anders herum. »Haben Sie Angst vor der Reise?«
Sie schüttelte den Kopf. »Der Geruch nach Feuchtigkeit«, sagte sie. »Schien die anderen überhaupt nicht zu stören.«
»Wäre es Ihnen lieber, wenn Irene herkommen und mit Ihnen zurückfliegen würde?«
»Ich bin putzen gegangen. So habe ich Irene all die Jahre durchgebracht. Ich habe Tilda beobachtet und wusste, wie man es macht. Sie wurde natürlich entlassen. Dafür hat er gesorgt. Keine finanziellen Unterlagen. Keine Banken. Sie war der einzige Unfall. Es war das einzige Mal, dass ihr Name in der Zeitung stand.«
»Wessen Name?«
»Du weißt schon«, sagte sie. Ihr Gesicht war jetzt verschlossen.
»Emily?«, fragte ich.
»Zeit verwundet alles Heile, weißt du.«
»Ist es Ihr Vater, über den Sie reden?«
»Ach du meine Güte, nein. Er war schon lange tot. Es wäre im Sockel, wenn du wüsstest, wo du suchen solltest.«
»In was für einem Sockel?«
Ihr Gesicht wurde ausdruckslos. »Sprichst du mit mir?«
»Nun, ja«, sagte ich. »Wir haben über Emily gesprochen, die gestorben ist, als der Kamin einstürzte.«
Sie machte eine Bewegung, als schließe sie ihren Mund ab und werfe den Schlüssel weg. »Ich habe alles getan, um sie zu retten. Meine Lippen sind versiegelt. Wegen Irene.«
»Warum, Agnes? Was ist es, über das Sie nicht sprechen dürfen?«
Sie sah mich fragend an. Ich merkte plötzlich, dass jetzt die richtige Agnes Grey da war. Sie sprach völlig vernünftig. »Also, Sie sind ja gewiss sehr nett, meine Liebe, aber ich weiß nicht, wer Sie sind.«
»Ich bin Kinsey«, sagte ich, »eine Freundin Ihrer Tochter. Sie hat sich große Sorgen gemacht, als sie nichts mehr von Ihnen hörte, und hat mich gebeten, herzufahren und nach dem Rechten zu sehen.«
Ich sah, wie ihr Gesichtsausdruck sich veränderte, und weg war sie wieder. »Tja, das wusste niemand. Niemand hat es auch nur vermutet.«
»Hallo, Agnes! Haben Sie eine Ahnung, wo Sie sind?«
»Nein. Weißt du, wo du bist?«
Ich lachte. Ich konnte nicht anders. Gleich darauf begann auch sie zu lachen, es klang wie das Niesen einer zarten Katze. Im nächsten Moment war sie wieder eingeschlafen.
7
Ich konnte nicht schlafen. Ich musste an Agnes denken, deren Ängste offenbar ansteckend waren und eigene Ängste in mir weckten. Die Erkenntnis, dass ich tatsächlich in Lebensgefahr schwebte, war endlich zu mir durchgedrungen und begann sich zu verselbstständigen. Überempfindlich geworden, achtete ich auf jedes Geräusch, auf die Raumtemperatur, die sich im Lauf der Nacht änderte, auf die wechselnden Lichtmuster an den Jalousien. Um ein Uhr morgens fuhr in der Nähe
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