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Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist

Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist

Titel: Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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Ihre Brust war flach. Aus ihrem Kinn spross ein derber Bart, als habe das Alter bei ihr zu einer Geschlechtsumwandlung geführt. Ich merkte, dass ich meinerseits den Atem anhielt, während ich sie beobachtete und in Gedanken beschwor zu atmen, und ich fragte mich, ob sie vielleicht vor meinen Augen davonsegeln würde. Heute Nachmittag war sie mir aufsässig und energisch vorgekommen. Jetzt erinnerte sie mich an so manche alte Katze, die ich kannte — fast feenähnliche Wesen, mit Knochen, die hohl und so zart zu sein scheinen, dass man meint, die Tiere müssten schweben können.
    Ich schaute auf die Uhr. Zwölf Minuten waren vergangen. Als ich Agnes wieder ansah, hefteten sich ihre schwarzen Augen mit erstaunlicher Lebhaftigkeit auf mein Gesicht. Diese plötzliche Wachheit war irgendwie erschreckend, wie ein Besuch aus der Geisterwelt.
    »Verschlepp mich nicht dorthin«, flüsterte sie.
    »Es ist bestimmt nicht so schlimm. Das Pflegeheim ist sehr hübsch, habe ich gehört. Wirklich. Viel besser als dieses.«
    Ihr Blick wurde noch eindringlicher. »Du verstehst nicht. Ich will hier bleiben.«
    »Ich verstehe schon, Agnes, aber es ist nicht möglich. Sie brauchen Hilfe. Irene möchte Sie in ihrer Nähe haben, damit sie sich um Sie kümmern kann.«
    Traurig schüttelte sie den Kopf. »Ich werde sterben. Ich werde sterben. Es ist zu gefährlich. Hilf mir, damit ich fliehen kann.«
    Ich fühlte, wie sich mir die Haare sträubten. »Es wird Ihnen gut gehen«, sagte ich. »Alles ist in Ordnung.« Meine Stimme war zu laut, ich sprach leiser, beugte mich zu ihr vor. »Erinnern Sie sich an Irene?«
    Sie blinzelte, und ich hätte schwören können, dass sie mit sich selbst im Streit lag, ob sie es zugeben sollte oder nicht. Sie nickte, ihre Stimme bebte. »Mein kleines Mädchen«, sagte sie und streckte die zitternde Hand aus. Ich nahm sie und hielt sie fest. Sie war knochig und heiß und überraschend kräftig.
    »Vor einer Weile habe ich mit Irene gesprochen«, sagte ich. »Clyde hat ein Heim ganz in ihrer Nähe gefunden. Sie sagt, es sei sehr hübsch.«
    Sie schüttelte den Kopf. Tränen schossen ihr in die Augen und liefen ihr über die Wangen, den tiefen, zerklüfteten Falten folgend. Ihr Mund begann zu arbeiten, in ihrem Gesicht stand eine Bitte, die sie anscheinend nicht artikulieren konnte.
    »Können Sie mir sagen, wovor Sie solche Angst haben?«
    Ich sah, wie sie mit sich kämpfte, und als die Stimme ihr endlich gehorchte, war sie so schwach, dass ich mich leicht vom Stuhl erheben musste, um zu verstehen, was sie sagte.
    »Emily ist gestorben. Ich habe versucht, sie zu warnen. Der Schornstein ist beim Erdbeben eingestürzt. Die Erde bewegte sich. Oh, ich konnte es sehen — es war wie Wellen in der Erde. Ein Ziegelstein hat ihr den Schädel eingeschlagen. Sie wollte nicht auf mich hören. Ich habe ihr gesagt, dass es gefährlich ist. Lass es, sagte ich, aber sie musste ihren Willen durchsetzen. Verkauf das Haus, verkauf das Haus. Sie wollte keine Wurzeln, aber so musste sie enden — tief in der Erde.«
    »Wann war das?«, fragte ich, um das Gespräch in Gang zu halten.
    Agnes schüttelte stumm den Kopf.
    »Sind Sie deshalb besorgt? Wegen Emily?«
    »Ich habe gehört, die Nichte des Besitzers von diesem alten Haus auf der anderen Seite der Straße ist vor ein paar Jahren gestorben. Sie war eine Harpster.«
    O Mann! Jetzt ging es aber los. »Was ist eine Harpster?«, fragte ich.
    Sie schüttelte ungeduldig den Kopf. Ihre Stimme wurde kräftiger. »Harpster war ihr Mädchenname. Sie war was Hohes in der Citizen Bank und hat nie geheiratet. Helen war eine Exfreundin von ihm. Sie ist gegangen, weil er jähzornig war, aber dann kam Sheila daher. Sie war so jung. Sie hatte keine Ahnung. Das andere Harpster-Mädchen war Tänzerin und heiratete Arthur James, einen Berufsmusiker — Akkordeonspieler, der eine Musikalienhandlung hatte. Ich kannte ihn, weil wir Mädchen immer zu ihm gegangen sind und er für uns gespielt hat, nachdem er die Tür zugesperrt hatte. Die Welt ist klein. Die Mädchen haben gesagt, das Haus ihres Onkels sei ihr zweites Heim. Sie ist vielleicht noch da, wenn er es ihr vermacht hat. Sie würde helfen.«
    Ich beobachtete die alte Frau aufmerksam, bemühte mich zu verstehen, was vorging. Gab es wirklich etwas, vor dem sie sich zu sehr fürchtete, um darüber zu sprechen? »War es Emily, die Arthur James geheiratet hat?«
    »Es gab immer irgendeine Geschichte — irgendeine Erklärung.« Sie machte eine

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