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Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist

Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist

Titel: Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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tut mir Leid. Ich weiß, es ist eine Zumutung, aber ich bin mit meiner Weisheit am Ende. Ich habe selbst versucht, mit ihr zu telefonieren, aber sie redet nur wirres Zeug. Mrs. Haynes sagt, dass das Medikament manchmal diese Wirkung hat; anstatt die alten Patienten zu beruhigen, scheint es sie noch auf Touren zu bringen. Sie lassen für die Morgenschicht eine Privatschwester aus El Centro kommen, aber die ganze Abteilung ist in Aufruhr, und sie bitten dringend um Hilfe.«
    »Gut. In Ordnung. Ich will tun, was ich kann, aber ich habe mit diesen Dingen überhaupt keine Erfahrung.«
    »Das verstehe ich ja«, sagte Irene. »Ich weiß nur nicht, an wen ich mich sonst wenden könnte.«
    Ich sagte ihr, ich würde ins Pflegeheim hinüberfahren, dann legte ich auf. Ich konnte nicht fassen, dass ich mich darauf eingelassen hatte. Meine Anwesenheit in der geriatrischen Abteilung würde sich ungefähr als genauso zweckmäßig erweisen wie das Vorhängeschloss am Wohnwagen von Agnes Grey. Alles äußerlich, ohne Sinn. Was mich besonders sauer machte, war der Verdacht, dass man einem männlichen Kollegen so etwas ganz bestimmt nicht einmal vorgeschlagen, geschweige denn von ihm verlangt hätte. Ich wollte diese alte Frau nicht wieder sehen. Zwar bewunderte ich sie, weil sie Mumm hatte, aber ihre Hüterin wollte ich nicht sein. Ich hatte genug damit zu tun, mich selbst in Sicherheit zu bringen. Warum bildet alle Welt sich nur ein, Frauen seien die geborenen Samariterinnen? Meine Mutterinstinkte hatte mir schon meine Puppe Betsy ausgetrieben, die aus dem Fläschchen trinken und in die Windeln machen konnte. Jedes Mal wenn sie in ihre kleinen Flanellwindelchen gepinkelt hatte, fühlte ich, wie es in mir kochte. Ich hörte auf, ihr das Fläschchen zu geben, und damit hatte der Spuk ein Ende; doch diese Erfahrung hatte mich dazu gebracht, mich schon im Alter von sechs Jahren zu fragen, ob ich mich zur Mutter eignete.
    In so mildtätiger Stimmung brach ich zum Rio Vista auf. Um zu sehen, ob mir jemand folgte, behielt ich ständig den Rückspiegel im Auge. Ich hielt nach Lieferwagen in allen Größen und Farben Ausschau. Zwar glaubte ich, der, den ich gesehen hatte, sei ein Dodge gewesen, aber ich hatte ja nicht sonderlich darauf geachtet und hätte es nicht beschwören können.
    Es passierte gar nichts. Ungeschoren erreichte ich das Pflegeheim, stellte den Wagen auf dem Besucherparkplatz ab, betrat das Haus durch den Haupteingang und stieg die Treppe hinauf. Es war unheimlich still. Niemand konnte wissen, was Agnes ausheckte. Es war erst acht Uhr, aber im Flur brannte nur noch die Nachtbeleuchtung, und im ganzen Haus hörte man nichts als die gedämpften Nachtgeräusche, die allen Krankenhäusern eigen sind. Die Alten schlafen unruhig, die schmerzenden Glieder peinigen sie. Die Nächte müssen lang sein, erfüllt von unruhigen Träumen, der Angst vor dem Tod oder, vielleicht noch schlimmer, der Gewissheit, wieder zu einem endlosen Tag zu erwachen. Was hatten sie noch zu erhoffen? Was gab es noch Erstrebenswertes für sie in diesem Niemandsland künstlichen Lichts? Ich glaubte das Zischen des Sauerstoffs durch die Wände zu hören, ahnte, wie viele pharmazeutische Produkte in ihre Körper infundiert wurden. Herzen schlugen weiter, Lungen arbeiteten, Nieren filterten das Gift aus dem Blut. Aber wer diagnostizierte ihre Ängste, und wie konnte man ihnen Erleichterung von dem unterschwelligen Leiden verschaffen, das Hoffnungslosigkeit heißt?
    Als ich das Sechsbettzimmer betrat, sah ich, dass nur noch über Agnes’ Bett ein Licht brannte. Ein Pfleger, ein junger Schwarzer, legte seine Zeitschrift beiseite und kam, einen Finger auf den Lippen, auf Zehenspitzen auf mich zu. Wir sprachen kurz und sehr leise miteinander. Das Medikament habe endlich gewirkt, und sie sei eingenickt, sagte er. Da ich nun hier sei, müsse er zu seiner regulären Arbeit zurück. Falls ich etwas brauchte, fände ich ihn im Schwesternzimmer in der Halle. Er ging hinaus.
    Leise bewegte ich mich auf den hellen Lichtkreis zu, in dem Agnes schlief. Die Decke auf ihrem Bett war von schwerer Baumwollqualität, grellweiß und kaum ausgebeult, auch da nicht, wo sie die abgezehrte Gestalt bedeckte. Agnes schnarchte leise. Ihre Augen schienen leicht offen zu stehen, die Lider zuckten, während sie irgendein Erlebnis innerlich verarbeitete. Ihre rechte Hand umklammerte das Laken, die arthritischen Knöchel traten so stark hervor wie die Knoten im roten Holz der Küstensequoia.

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