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Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht

Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht

Titel: Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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die Papiertüte auf den Fußboden stellte. Dann zog ich mir selbst einen Stuhl heran. Ich fürchtete, wenn wir auf verschiedenen Seiten meines Schreibtisches säßen, würde sie studieren, was ich von der Steuer absetzen konnte, und das ging sie nichts an. Ich bin selbst Meisterin im Verkehrtrumlesen und zögere selten, mich in Dinge einzumischen, die mich nichts angehen. »Was für eine Selbsthilfegruppe?« fragte ich.
    »Für Eltern, deren Kinder umgebracht worden sind. Meine Tochter starb im vergangenen April. Lorna Kepler. Man hat sie in ihrer Hütte drüben bei der Mission gefunden.«
    »Ah ja«, sagte ich. »Ich erinnere mich. Aber soviel ich weiß, gab es da Unklarheiten wegen der Todesursache.«
    »Nicht in meinen Augen«, sagte sie bissig. »Ich weiß zwar nicht, wie sie gestorben ist, aber ich weiß, daß sie ermordet wurde, so sicher wie ich hier sitze.« Sie hob den Arm und steckte sich eine lange, lose Haarsträhne hinters rechte Ohr. »Die Polizei hat nie einen Verdächtigen gefunden, und ich weiß nicht, welcher Zufall ihnen nach so langer Zeit noch helfen könnte. Jemand hat mir gesagt, daß die Chancen mit jedem Tag geringer werden, aber ich habe vergessen, um wieviel Prozent.«
    »Das stimmt leider.«
    Sie beugte sich vor, wühlte in der Papiertüte und holte eine Fotografie in einem Klapprahmen heraus. »Das ist Lorna. Vermutlich haben Sie das Bild damals in den Zeitungen gesehen.«
    Sie hielt mir das Foto hin. Ich nahm es und starrte auf das Mädchen. Ein Gesicht, das man nicht vergaß. Sie war Anfang Zwanzig, hatte dunkles Haar, das sie glatt aus dem Gesicht gestrichen trug und das ihr bis zur Mitte des Rückens ging. Sie besaß leuchtendhaselnußbraune Augen, die beinahe asiatisch geschlitzt waren; dunkle, klar geschwungene Augenbrauen; einen breiten Mund und eine gerade Nase. Sie war schlank und trug eine weiße Bluse, einen langen, schneeweißen Schal, den sie mehrmals um den Hals geschlungen hatte, einen dunklen, marineblauen Blazer und ausgebleichte Jeans. Sie blickte direkt in die Kamera, lächelte leicht und hatte die Hände in die Jackentaschen gesteckt. Sie lehnte an einer Wand mit geblümter Tapete, auf der sich üppige, blaßrosa Kletterrosen auf einem weißen Hintergrund nach oben rankten. Ich gab das Bild zurück und fragte mich, was in aller Welt ich unter diesen Umständen sagen sollte.
    »Sie ist sehr schön«, murmelte ich. »Wann ist das aufgenommen worden?«
    »Ungefähr vor einem Jahr. Ich mußte sie dazu drängen, sich fotografieren zu lassen. Sie ist meine Jüngste. Gerade fünfundzwanzig geworden. Sie wollte gern Model werden, aber es hat nicht geklappt.«
    »Sie müssen noch jung gewesen sein, als Sie sie bekommen haben.«
    »Einundzwanzig«, antwortete sie. »Bei Berlyn war ich siebzehn. Wegen ihr habe ich geheiratet. Schon nach fünf Monaten war ich rund wie eine Tonne. Ich bin immer noch mit ihrem Daddy zusammen, was alle erstaunt hat, mich eingeschlossen, glaube ich. Bei meiner mittleren Tochter war ich neunzehn. Sie heißt Trinny und ist ein echter Schatz. Lorna, das arme Ding, ist diejenige, an der ich beinahe gestorben wäre. Bin eines Morgens, kurz vor dem Geburtstermin, aufgestanden und habe zu bluten angefangen. Ich begriff nicht, was los war. Überall Blut. Es war, als würde ein Fluß zwischen meinen Beinen entspringen. So etwas habe ich noch nie gesehen. Der Doktor hat befürchtet, er könnte keine von uns retten, aber wir haben’s geschafft. Haben Sie Kinder, Mrs. Millhone?«
    »Nennen Sie mich Kinsey«, sagte ich. »Ich bin nicht verheiratet.«
    Sie lächelte schwach. »Ganz unter uns, Lorna war, ehrlich gesagt, mein Liebling, wahrscheinlich, weil sie zeit ihres Lebens so problematisch war. Das würde ich natürlich den beiden Älteren nicht verraten.« Sie steckte das Foto weg. »Auf jeden Fall weiß ich, wie es ist, wenn einem das Herz aus dem Leib gerissen wird. Vermutlich sehe ich wie eine ganz normale Frau aus, aber ich bin ein Zombie, eine lebende Tote, vielleicht ein klein wenig übergeschnappt. Wir sind in diese Selbsthilfegruppe gegangen... jemand hat es vorgeschlagen, und ich dachte, es könnte vielleicht helfen. Ich war bereit, alles zu versuchen, um den Schmerz loszuwerden. Mace — das ist mein Mann — kam ein paarmal mit und ist dann ausgestiegen. Er hat die Geschichten nicht ausgehalten, konnte das ganze Leid nicht ertragen, das sich da in einem Raum ballte. Er will es aussperren, es loswerden, abschütteln. Ich glaube nicht, daß das

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