Kite
bedurfte dies großer Kraft und Anstrengung.
Oder …
Ich erblickte das andere Ende des Seils. Es war um das Geländer bei der Treppe geschlungen. »Fragt den Wachmann, ob er einen Pick-up oder Van mit Anhängerkupplung gesehen hat. Ich wette, er hat ein Seilende an seinem Fahrzeug befestigt und das Opfer damit hochgezogen.«
Und jetzt kam der Augenblick, vor dem ich mich gefürchtet hatte. Ich wandte mich der Leiche unter dem blutigen Tuch zu. »Wurde sie bereits identifiziert?«
»Jack.« Der Ton in Herbs Stimme klang nicht wie eine Warnung. Er flehte mich förmlich an, die Sache nicht weiterzuverfolgen.
»Haben wir einen Namen?«, bohrte ich weiter.
Er seufzte. »Sie hatte die Handtasche noch bei sich. Jessica Shedd. Wohnt in Wrigleyville.«
»Todesursache?«
»Hypovolämie.«
Blutverlust. Plötzlich spürte ich, wie das Baby in mir zu treten anfing. Aber vielleicht drehte sich mir auch nur der Magen um. Obwohl ich das Opfer eigentlich nicht ansehen wollte, bat ich Tom, das Tuch anzuheben. Als Zivilperson musste ich aufpassen, dass ich nichts anfasste, denn damit würde ich die Arbeit der Strafverfolgungsbehörden kompromittieren.
Tom kam meinem Wunsch nach, und ich zwang mich dazu, emotional unbeteiligt zu bleiben.
»Ein Jogger hat sie heute Morgen gefunden, als es gerade hell wurde, und die Polizei verständigt. Als ich am Fundort eintraf, dachte ich, sie hätte ein paar extra Seile am Körper hängen. Aber das waren keine Seile …«
Herb sprach den Satz nicht zu Ende. Ich versuchte, nicht auf die Eingeweide zu blicken, die sich über den Boden schlängelten. Die Frau war nackt, lag auf der Seite, die Hände mit Kabelbindern gefesselt. Ich konzentrierte mich auf ihr Gesicht. DieAugen standen weit offen und der Mund war mit einem Streifen Isolierband zugeklebt. Ich trat ein paar Schritte zurück. Der Gestank vermischte sich mit dem faulen Geruch des Flusses.
Ich holte mein iPhone aus der Tasche.
»Tut mir leid, Jessica«, flüsterte ich und machte ein paar Aufnahmen. Dann wandte ich mich wieder Herb zu. »Du hast gesagt, der Täter hätte etwas für mich dagelassen.«
»Es ist immer noch in ihrem, äh …«
Herb senkte seinen Blick, und es kostete mich große Überwindung, auf ihren aufgeschlitzten Bauch zu gucken.
Es war ein Taschenbuch in einem teilweise in den Innereien versteckten verschließbaren Plastikbeutel, an dem so viel Blut klebte, dass er fast wie ein menschliches Organ aussah.
Ich ging in die Hocke, hielt den Atem an und blickte mit zusammengekniffenen Augen durch die blutverschmierte Plastikhülle.
Auf den Beutel hatte jemand mit wasserfestem Filzstift geschrieben:
JACK D – WIR WERDEN DAS KIND SCHON SCHAUKELN – LK
Herb machte ein paar Fotos, während Tom neben mir kniete und versuchte, das Buch aufzuheben. Doch es steckte fest.
»Es ist mit Draht an ihren Rippen befestigt«, sagte er und blickte mit einer Mischung aus Ekel und Wut drein.
Es dauerte ein paar Minuten, bis jemand einen Drahtschneider brachte. Während die Sanitäter den Beutel entfernten, starrte ich über den Fluss, rieb mir den Bauch und dachte an meine letzte Begegnung mit Luther. Sein Versprechen fiel mir wieder ein.
»Wir werden uns wiedersehen, und zwar bald.«
Plötzlich fror ich und zitterte. Herb stellte sich zu mir.
»Haben Phin und Harry mit dir über Lake Geneva geredet?«, fragte er.
»Lake Geneva? In Wisconsin? Wieso?«
»Dort gibt es ein Wellness-Zentrum speziell für schwangere Frauen. Wir haben uns alle gedacht, dass es vielleicht keine schlechte Idee wäre, wenn du für ein paar Wochen die Stadt verlässt und dich schonst.«
»Meine Gynäkologin ist aber hier in Chicago.«
»Die Ärzte in diesem Wellness-Zentrum zählen zu den besten im ganzen Staat, Jack.«
Ich sah meinen Freund an und entdeckte einen Ausdruck echter Sorge in seinem pausbäckigen Gesicht. »Wenn ich jedes Mal abhauen würde, nur weil es so ein Irrer auf mich abgesehen hat …«
»Jack, sie hat noch gelebt, als Luther sie hochgezogen hat. Hughes sagt, dass sie womöglich ein paar Minuten oder sogar eine halbe Stunde mit dem Tod gerungen hat. Es sieht wie eine brutale Metzelei aus, aber in Wirklichkeit steckt viel Können dahinter. Sie war nicht auf der Stelle tot.«
Ich bewegte die Zehen. Sie fühlten sich an, als seien sie eingeschlafen.
»Ich hab den Polizeidienst quittiert, damit ich mit so was nichts mehr zu tun habe«, sagte ich leise.
»Ich weiß. Hoffentlich ist das das letzte Mal.«
»Ja.
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