Klassentreffen (German Edition)
seinen Stuhl auf, der noch am Boden lag, und setzte sich.
Der Rest des Essens verlief schweigend. Alle starrten auf ihre Teller, stocherten in ihrem Essen herum; niemand sagte ein Wort.
Schließlich erhob sich Johannes Jakobs und beendete damit das Schauspiel. »Ich bin im Wohnzimmer.«
Inge Jakobs stellte die Teller zusammen und trug sie in die Küche.
»Warte, ich helf dir«, bot Meike an und folgte ihrer Mutter mit einem weiteren Stapel Geschirr.
In der Küche waren die beiden allein. Meikes Mutter ließ Spülwasser ein. »Ich verstehe das einfach nicht.« Sie seufzte.
»Ich habe es auch lange nicht verstanden. Ich wollte es die ganze Zeit nicht wahrhaben. Aber mit Franzi habe ich mich das erste Mal im Leben vollständig gefühlt.«
»War Franzi schon immer . . .« Meikes Mutter suchte nach dem passenden Wort, konnte sich aber nicht dazu durchringen, lesbisch zu sagen. Stattdessen ergänzte sie nur: ». . . so?«
»Ja, Franzi ist schon immer lesbisch.« Weitere Details wollte Meike ihrer Mutter ersparen.
»Seit wann geht das mit euch?«
Meike senkte den Blick. »Seit dem Klassentreffen. Aber . . .« Sie unterbrach sich. Es war nicht nötig, ihrer Mutter in diesem Moment alles zu erzählen; sie sollte erst einmal die wichtigste Neuigkeit verdauen. Dass die Beziehung schon wieder beendet war, brauchte sie nicht zu wissen. Sonst würde sie das Ganze nur für eine Spinnerei halten, Meikes Gefühle gar nicht weiter ernst nehmen.
Inge Jakobs’ leise, verzagte und immer noch ungläubige Stimme mischte sich in ihre Gedanken: »Ich kann deine Entscheidung nicht verstehen, Meike. Du könntest doch jeden Mann haben.«
»Es hat doch nichts damit zu tun, ob ich jeden Mann haben könnte oder nicht. Ich habe mich einfach in eine Frau verliebt und festgestellt, dass ich lieber mit einer Frau zusammen sein möchte.«
»Wenn du damit glücklich bist . . .«
»Ja, Mama. Das bin ich.« Meikes Stimme war fest. Auch wenn sie im Augenblick nicht glücklich war, wusste sie, dass sie für ihr Glück eine Frau an ihrer Seite brauchte. Nein – sie brauchte nicht irgendeine Frau, sie brauchte Franzi.
Inge Jakobs seufzte. »Gut. Ich hoffe, du bist wirklich glücklich damit. Wenn das der richtige Weg für dich ist, dann werde ich es wohl akzeptieren müssen.« Sie ging einen Schritt auf Meike zu und nahm sie in den Arm. »Aber das geht nicht von heute auf morgen.«
»Danke, Mama.« Meike ließ sich in die Umarmung ihrer Mutter fallen. Eine Welle der Erleichterung überflutete sie. »Ich gehe auch noch mal zu Papa«, beschloss sie.
Ihre Mutter strich ihr über den Rücken. »Erwarte nicht zu viel. Du kennst ihn.«
Johannes Jakobs saß allein auf der Couch; Claudia und Robert waren im Esszimmer geblieben. »Was willst du noch hier?«, zischte er, als er Meike im Türrahmen stehen sah.
»Mit dir reden«, sagte Meike leise.
»Es gibt nichts mehr zu reden.« Demonstrativ wandte sich Meikes Vater von ihr ab und nahm eine Zeitung in die Hand.
Meikes Magen krampfte sich zusammen. Sie spürte die Tränen aufsteigen.
Unbemerkt war Meikes Mutter ihr gefolgt. »Vielleicht ist es besser, wenn du jetzt nach Hause gehst«, meinte sie. »Ich werde noch einmal in Ruhe mit ihm reden.«
»Vielleicht.« Meike schluckte gegen den Kloß in ihrem Hals an. Sie sammelte ihre Sachen zusammen. Die Geschenke, die sie mitgebracht hatte, ließ sie unter dem Tannenbaum stehen.
Neun Uhr, und der Heiligabend war zu Ende. Meike verabschiedete sich von ihrer Schwester und Robert. Dann trat sie in die eisige Kälte hinaus und lief los in Richtung Altstadt.
~*~*~*~
F ranzi starrte in den Sternenhimmel, als würden dort die Antworten auf all ihre Fragen stehen. Langsam lief sie durch die hell erleuchtete Gasse, in ihren schwarzen Mantel gehüllt und den dicken Schal um den Hals. Ihre Hände waren in den Taschen vergraben. Hatte ihre Mutter vielleicht recht, und sie musste Meike verzeihen?
Aber das konnte sie nicht so leicht. Sie wollte es gern. Doch Meike hatte sie zu tief verletzt.
Franzis Finger waren taub, aber sie spürte es kaum. In ihr war nur diese Leere. Vor noch gar nicht allzu langer Zeit hatte sie sich auf das Weihnachtsfest gefreut, auf die gemeinsame Zeit mit Meike. Jetzt erschien all das absurd. Jetzt war sie einsam, und das Fest der Liebe hatte seinen Sinn verloren.
Wie hatte es jemals so weit kommen können? Erst Isabel, dann Meike . . . Was hatte sie nur falsch gemacht? Was hätte sie tun können?
So viele Fragen,
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