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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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aber nicht taten.
    »Aber Sie kommen doch wieder,
oder?« fragte Joel. »Ich meine, in nächster Zeit? Denn in Ihrem Schrank... Ich
wollte nicht neugierig sein, aber ich habe, rein zufällig, einen Blick in Ihren
Schrank geworfen: sämtliche Kleider sind nicht mehr da.«
    »Tatsächlich?« sagte sie.
    »Ich dachte schon, Sie seien
für immer gegangen.«
    »Oh, nein, nur... es dauert
alles etwas länger als erwartet«, erklärte sie.
    Sam stand auf und verließ den
Raum.
    Von oben rief Susie: »Mama?
Mama?«
    »Es ist nicht der Makler!« rief Delia zurück.
    Joel sagte: »Pardon?«
    »Entschuldigen Sie, Joel, ich
muß jetzt Schluß machen«, sagte sie. »Bis bald.«
    Sie hängte ein.
    »Na, wenn du nicht beliebt
bist!« sagte Linda.
    Delia lachte, leichthin, wie
sie hoffte, und räumte den Tisch ab.
     
    * * *
     
    Es stimmte, stellte sie oben
fest, sie hatte wirklich alle Kleider mitgebracht. Nein, nicht alle. Joel wäre
beruhigt gewesen, hätte er auch einen Blick in die Kommode geworfen. Es hatte
sich einfach so ergeben — die unstete Jahreszeit, ihre Unentschlossenheit, was
sie auf die Hochzeit anziehen sollte — und sie hatte gepackt, als wollte sie
tagelang wegbleiben. Sie malte sich aus, wie Joel vor ihrem Schrank gestanden
hatte, die breite Stirn ratlos in Falten angesichts der leeren Kleiderbügel.
Mit einem Ruck klappte sie ihren Koffer zu und ließ die Schlösser schnappen.
    Dann ging sie durch den Flur in
Sams Zimmer. Hier hatte sie vieles zurückgelassen. Komisch, daß sie bei der
Überlegung, was sie zur Hochzeit anziehen sollte, nie ihre alten Kleider in
Betracht gezogen hatte! Oder vielleicht gar nicht so komisch — alles nur
Rüschen und kindliche Pastelltöne. Sie ging an ihre Kommode und fand in der
obersten Schublade eine ramponierte blaue Haarschleife, Sicherheitsnadeln,
abgerissene Eintrittskarten, alles eine Spur mit Körperpuder überstäubt. Eine
Sonnenbrille, bei der ein Glas fehlte. Ein Fünfzig-Cent-Gutschein für eine
Handcreme. Ein Zeitungsausschnitt von einem Fotomodell in einem steifen,
schmucklosen, schwarzen Nichts von einem Kleid. Es war überhaupt nicht ihr
Stil, und sie betrachtete das Foto eine Weile, bis ihr wieder einfiel, daß es
das Fotomodell war, das sie beeindruckt hatte, nicht das Kleid. Die biegsame
junge Schöne mit dem gleichen arroganten Harrschnitt wie Rosemary Bly-Brice.
    Schritte kamen die Treppe
hinauf, und sie schloß die Schublade heimlich wie ein Dieb. Als sie sich
umdrehte, stand Sam in der Tür. »Oh!« sagte sie, und er sagte: »Ich wollte nur -«
    Beide redeten nicht weiter.
    »Ich dachte, du seist Patienten
besuchen«, sagte sie.
    »Nein, für heute bin ich
fertig.«
    Er steckte seine Hände in die
Hosentaschen. Sollte sie gehen? Aber er füllte die Tür; es wäre peinlich
gewesen.
    »Ich habe meist nur noch
morgens Sprechstunde«, sagte er. »Ich habe nicht mehr viele Patienten. Die
Hälfte ist an Altersschwäche gestorben. Mrs. Harper, Mrs. Allingham...«
    »Mrs. Allingham ist gestorben?«
    »Schlaganfall.«
    »Oje, sie wird mir fehlen«,
sagte Delia.
    Sam war freundlich genug, nicht
darauf hinzuweisen, daß sie seit sechzehn Monaten jeglichen Kontakt zu Mrs.
Allingham aufgegeben hatte.
    Sein Bett war gemacht, aber wie
die meisten Männer hatte er nicht begriffen, daß die Überdecke ein Eckchen
unters Kopfkissen geschoben werden mußte, damit es ordentlich aussah. Statt
dessen hing das Stück Stoff in ganzer Länge trübsinnig bis zum Kopfende durch.
Bloß um sich zu beschäftigen, nahm Delia sich das Bett vor. Sie schlug die
Überdecke zurück und schüttelte beide Kopfkissen in Form.
    »Wahrscheinlich habe ich die
Praxis deines Vaters ruiniert«, meinte Sam zu ihr.
    »Wie bitte?«
    »Ich habe sie zu einem Schatten
ihrer alten Pracht heruntergewirtschaftet, findest du das nicht?«
    »Es ist nicht deine Schuld, wenn
Leute alt werden und sterben«, sagte Delia.
    »Es ist aber meine Schuld, wenn
keine neuen Patienten nachkommen«, sagte er. »Ich bin nicht so fürsorglich wie
dein Vater, ganz offensichtlich. Ich sage den Leuten vor den Kopf, sie haben schlicht
und einfach Verdauungsstörungen; ich schwafle nicht von Dyspepsie. Ich war nie
einer, der seinen Patienten was Vormacht und ihnen Brei um den Bart schmiert.«
    Delia spürte einen vertrauten
Ärger in sich hochsteigen. »Dyspepsie« ist doch nun wirklich kein Brei um den
Bart schmieren, hätte sie sagen können. Und ich weiß auch nicht, warum du immer
so bitter und bissig über meinen Vater

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