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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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Zuckerstreuer, als wollte
sie ihre Hände wärmen — ehrlich gesagt, kein besonders imposanter Gegenstand:
eine kleine Urne, geformt wie eine Schachfigur, verbeult, die Silberauflage
angelaufen. Thérèse tupfte ihren Zeigefinger hier und da auf den Tisch, pickte
Zuckerkristalle auf und beförderte sie in ihren Mund.
    Linda sagte: »In unserer
Familie hat es in jeder Generation ein Mädchen gegeben, das nie geheiratet
hat.«
    »In dieser Generation ist das
Thérèse«, sagte Marie-Claire.
    »Niemals«, sagte Thérèse.
    »Doch.«
    Das Telefon läutete.
    »Wenn’s einer aus der Schule
ist, ich bin krank«, erklärte Carroll.
    »Carroll Grinstead! Ich weigere
mich, für dich zu schwindeln«, sagte Delia. Sie schubste die Katze vom Schoß
und stand auf. »Hallo?«
    »Delia?« sagte Noah.
    Delia kehrte den übrigen den
Rücken zu. »Was ist?« fragte sie so ruhig wie möglich.
    »Ich bin erkältet.«
    »Liegst du im Bett?«
    »Ich liege auf dem Sofa. Wo steckst du? Warum bist du noch nicht wieder hier?«
    »Ich habe gestern abend
versucht, euch anzurufen, aber ihr wart nicht da«, sagte Delia. »Woher weißt du
denn, wo ich bin?«
    »Genau, du hast nicht mal eine
Nummer dagelassen! Ich mußte Belle Flint anrufen, und sie hat gesagt, du bist
bei deiner Familie, also habe ich der Information gesagt, sie soll nach
›Grinstead‹ suchen, und zuerst hatte ich eine Dame dran, die sagte: ›Oh, du
willst sicher meine Schwiegertochter Sprechern, und sie hat mir dann... Aber
gestern wolltest du wiederkommen, hast du gesagt!«
    »Oder heute«, erinnerte Delia
ihn. »Ich nehme bald einen Bus, oh, vielleicht schon heute nachmittag! Bald
weiß ich es genauer -«
    »Ist das der Makler?« rief
Susie von oben.
    Delia hielt den Hörer zu.
»Nein!« rief sie zurück. Dann erklärte sie Noah: »Bleib schön auf dem Sofa. Ich
komme bald nach Hause. Bye, bye.«
    Als sie einhängte und sich
umdrehte, fand sie, daß alle sie ansahen. »Nun ja!« sagte sie munter. »So!«
    Sie zogen solche Gesichter —
als hätten sie Delia auf frischer Tat ertappt.
    Dann kam Sam in die Küche, noch
im weißen Kittel. Er machte Mittagspause, und sie saßen hier beim Frühstück.
Linda hatte seinen Stuhl besetzt und machte keine Anstalten, ihn zu räumen. »Da
ist ja unser guter Doktor«, sagte sie bissig.
    Delia fragte: »Sam, möchtest du
—?« und hielt dann inne. Eigentlich war es nicht an ihr, ihm etwas zu essen
anzubieten. Aber ihm schien es nichts auszumachen. Er setzte sich auf Susies
Platz und sagte: »Egal was. Suppe vielleicht.«
    Er hatte sich hauptsächlich von
Suppe ernährt, denn etwas anderes war im Schrank kaum auffindbar — seine
salzarme, fettfreie, geschmacklose Lieblingssorte mit dem tanzenden Herz auf
dem Etikett. Sie öffnete eine Büchse Sojamilch-Pilzsuppe und goß sie in einen
Topf.
    Jetzt fragte er Carroll, wieso
er nicht in der Schule war. Er machte alles falsch, so schulmeisterlich, lockte
nur Carrolls Widerspruchsgeist hervor, und Carroll hing bereits angriffslustig
über seiner Müslischüssel. Beide, stellte Delia fest — eigentlich alle
Anwesenden — , waren ihr nicht mehr so überdeutlich bewußt wie gestern. Den
äußeren Glanz des Ungewohnten hatten sie schon wieder verloren.
    Sam meinte, die Fast-Hochzeit
einer Schwester sei kein angemessener Grund, blauzumachen. »Du hast ja
keine Ahnung!« griff Carroll ihn an. »Manche Typen in der Klasse nehmen sich
frei, wenn die Orioles spielen, mein Gott!«
    »Hüte deine Zunge, junger
Mann«, warnte Sam. Delia rührte in der Suppe. Sie hatte das Gefühl, Sam schwebte
und schwankte in der Luft, wie ein Drachen oder Banner, wie ein Windsack, der,
wenn sich der Wind drehte, die Form änderte. Einerseits wirkte er freundlich,
reserviert und wohlmeinend; andererseits war er kleinlich und humorlos. Sie
mußte plötzlich daran denken, wie sie an jenem ersten Morgen ihres
Kennenlernens damals von ihrem Schreibtisch zu ihm hinüber gesehen und für den
Bruchteil einer Sekunde gefunden hatte, sein feingliedriges Gesicht war ein
Hauch zu fein, zu sensibel; und ihre Gefühle waren ins Wanken geraten. Doch
dann hatte sie den Eindruck beiseite gewischt und für immer vergessen — oder
wenigstens bis jetzt.
    »Bitte, Onkel Sam«, bettelten
die Zwillinge. »Kann er nicht zu Hause bleiben, nur dies eine Mal?
Unseretwegen?«
    Es läutete an der Haustür,
bevor er antworten konnte. Alle sahen sich an, und die Katze machte einen Satz
in Richtung Keller.
    »Ich bin nicht da«, sagte
Carroll mit

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