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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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reden mußt. Sie stolzierte auf die
andere Seite des Betts.
    Aber Sam fragte: »Woher hinkst
du eigentlich?«
    »Hinkst?«
    »Du belastest nur ein Bein.«
    »Oh, das ist schon seit ein
paar Monaten. Es ist fast verheilt.«
    »Setz dich mal.«
    Sie setzte sich auf die
Bettkante, und er kam und kniete sich vor sie hin, streifte ihr den Schuh ab.
Mit den Fingerspitzen tastete er ihren Fuß oben ab, mit gekonnt gezieltem
Griff, den sie bis in die Leistengegend spürte.
    Mit ihrer sanftesten Stimme
sagte sie: »Deine Patienten haben dir das, soweit ich weiß, nie übelgenommen.
Sie fanden immer, du bist ein Heiliger.«
    »Das tun sie nicht mehr«, sagte
er. Er sah konzentriert aus dem Fenster, während er eine Sehne nachfühlte, als
wäre die Verletzung eher hör- als sichtbar. »Vor kurzem rief nachts Mrs.
Maxwell wie üblich mit ihrer Magengeschichte an, und ich habe ihr gesagt: ›Wenn
ich recht überlege, Mrs. Maxwell, könnte ich auch eine ziemliche Liste
Wehwehchen nennen. Augenbrennen und Kopfschmerzen, und obendrein spielt mein
Knie verrückt‹, sagte ich. Natürlich war sie tödlich beleidigt. Ich habe keine
Geduld mehr. Oder vielleicht war ich in Wirklichkeit gar nicht geduldig. Ich
habe kein sehr weites... Herz. Was mir fehlt, könntest du sagen, ist ein
gewisser Optimismus.«
    Das Wort allein, in
Zusammenhang mit Sam, ließ Delia lächeln, aber da er ihren Knöchel drückte,
bemerkte er das nicht. »Tut das weh? Das?« fragte er.
    »Ein bißchen.«
    Sie dachte daran, daß Joel
ihren Fuß genauso gehalten hatte. Aber Joels Griff war so fremd gewesen, so
weit weg von ihr — ein bißchen unwirklich sogar, rückblickend.
    »Wahrscheinlich habe ich dich
deshalb geheiratet«, sagte Sam gerade. Hatte sie nicht richtig zugehört? »Du
warst ausgesprochen optimistisch, als wir uns kennenlernten«, sagte er. »Oder
besser gesagt... vergnügt. Jetzt begreife ich, daß ich dich aus völlig falschen
Gründen geheiratet habe.«
    Sie schreckte leicht zurück.
    »Da throntest du auf dem Sofa«,
sagte er, »neben deinen beiden furchterregenden Schwestern. Eliza dozierte über
Seetang und toxische Vitamingaben; Linda warf mit Begriffen wie ›loué‹ und
›distingué‹ um sich. Aber du warst so schüchtern und niedlich und ungeschickt,
wie du in dein Sherrygläschen lächeltest. Du bewegtest dich so flatterig. Mit
dir würde ich schon fertig, dachte ich, und habe mich nie gefragt, wieso ich
das eigentlich nötig hatte.«
    Er ließ ihren Fuß sinken und
setzte sich in die Hocke. »Stell dich mal, bitte«, befahl er. »Ich nehme an, du
hattest einen Bänderriß. Das heilt manchmal sehr langsam. Wie ist das
passiert?«
    Sie war ungeschickt und bewegte
sich flatterig, aber das wollte sie nicht sagen. Er verfolgte jedenfalls weiter
seinen ursprünglichen Gedankengang.
    »Als du fortgingst«, sagte er,
»war die Polizei anfangs voll Mitgefühl. Dann reimten sie sich zusammen, daß du
aus freien Stücken gegangen warst, und ich sah, daß ihnen einiges durch den
Kopf ging. Ich konnte ihnen daraus keinen Vorwurf machen. Mir ging auch einiges
durch den Kopf. Ich fragte Eliza, nachdem sie dich besucht hatte: ›Lag es an
mir? Spiele ich dabei eine Rolle?‹ Vielleicht hatte ich etwas Falsches über
diesen Freund von dir gesagt. Oder ich habe dich wegen des Sonnenschutzmittels
genervt, oder du mochtest meine grauen Haare auf der Brust nicht. Oder die
Angina pectoris: ich weiß, die Angina-Geschichte muß wirklich trostlos gewesen
sein.«
    »Was?« sagte sie. »Also, das
ist unfair!«
    »Nein, nein, eine Weile war ich
wirklich nicht bei Trost. Habe mir alle zwei Minuten den Puls gemessen. Ich
glaube, ich hatte Angst, wie mein Vater tot umzufallen.« Er stand auf, wischte
sich sorgfältig die Knie ab, obwohl sie nicht staubig waren. »Aber Eliza sagte,
daran läge es nicht. Sie sagte, du littest unter verschiedenen Belastungen, ich
weiß eigentlich immer noch nicht, wie sie das meinte.«
    Obendrein ist mir unklar, was
du unter ›Belastungen‹ verstehst. Hätte
sie bloß den Brief nicht weggeworfen! War der Ton vielleicht doch weniger kalt,
als es ihr damals vorgekommen war? Das Durchgestrichene fiel ihr wieder ein;
sie erinnerte sich, wie es gegen Ende häufiger geworden war und wie die Kommas
gefehlt hatten, als stürzte er kopfüber seinem Schlußsatz entgegen. Den er dann
so gründlich ausgestrichen hatte, daß sie ihn nicht mehr entziffern konnte.
    Das Telefon auf dem Nachttisch
läutete, doch keiner von ihnen nahm den Hörer ab,

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