Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters
anderen zählte man Herkules, Plato und Sokrates dazu. Auch die Habsburger sahen sich als Melancholiker; daher finden sich an der Wiener Hofburg so viele Herkules-Statuen.
Diese Lehre war offenbar nicht nur Gelehrtenwissen, sondern wurde auch in volkssprachlichen Dichtungen verbreitet:
Abb. 1: Skizze nach Robert Herrlinger (1961)
Ich bin haiz und feuchte,
an miner menschait alsus
bin ich der art sangwineus;
colera regiert auch mich,
diu ist haiz und trucken: ditz besich
an der kunst visica!
an mir regiert auch flema,
diu kalt ist und vueht;
ob es min wunder schueht,
so woelt ich daz ich vrie
waer melancolye,
diu trucken ist und dabi kalt.
Ich bin heiß und feucht an meinem
menschlichen Wesen also bin ich von
der Art Sanguiniker; Cholera regiert
auch mich, die ist heiß und trocken, das
sieh an der Kunst der Medizin! An mir
regiert auch das Phlegma das ist kalt
und feucht; falls es ein Wunder
verscheucht, so wollte ich, dass ich frei
von der Melancholie wäre, die trocken
ist und dabei kalt.
Johann von Würzburg (Anf. 14. Jh.),
Wilhelm von Österreich 3308–3319
Mit dem heutigen medizinischen Wissen im Hintergrund können viele Menschen solche Vorstellungen nicht ernst nehmen. Andererseits erfreut sich ein strukturell ähnlich aufgebautes System, das der traditionellen chinesischen Medizin, zunehmender Beliebtheit.
Ich habe mich mit dem folgenden Bild beholfen (Abb. 1): Stellen Sie sich eine Art Koordinatensystem vor, mit jeweils einem Bestimmungswort an den Enden der vier Achsen, zwischen denen die Temperamente angeordnet sind, wie in dieser schematischen Grafik. Im Idealfall steht ein Lebewesen in der Mitte. Gibt es deutliche Abweichungen von der Mitte, ist es krank. Nahrungs- und Arzneimittel können jeweils einzelne der Elemente, Säfte oder Qualitäten fördern oder hemmen. Nimmt man sie zu sich, kann sich die eigene Position zur Mitte hin verlagern – dann sind sie heilend – oder aus der Mitte hinaus, dann sind sie schädigend. Die in sich logische Kohärenz eines Vorstellungssystems trägt wesentlich zum Erfolg der Selbstheilungskräfte des Körpers bei, betont auch die moderne Sozialmedizin. Das machte wohl den Erfolg der Lehre von den Temperamenten (siehe S. 17) über Jahrhunderte aus.
Affekte – Gefühle
Schwieriger wird es, wenn man in die historische Welt der Gefühle einzutauchen versucht. Es ist ja schon bei lebenden Personen zu unterscheiden zwischen den Ausdrucksmitteln von Gefühlen, die ein Mensch wissentlich oder unwissentlich zulässt, und dem, was in ihm wirklich vorgeht. Keinem Menschen des Mittelalters können wir ins Gesicht schauen. Was wir in den schriftlichen Quellen erfahren, auf Bildern und an Statuen sehen, folgt einem höchst kunstvollen Code, der wohl von Zeitgenossen anders «gelesen» wurde als von uns. Dieser Code wurzelt auf der einen Seite in den gesellschaftlichen Vorstellungen, andererseits in textuellen Konventionen, auf die sich ein Künstler bezog, in der Hoffnung, sein Publikum verstünde auch diese Referenz.
Während heute kaum jemand in den Ausbrüchen eines Schauspielers den unmittelbaren Ausdruck seiner «wahren» Gefühle sehen wird, lesen wir in mittelalterlichen Quellen oft recht naiv von emotionalem Überschwang und halten das für echt und spontan. Wie im Theater aber jede emotionelle Äußerung übertriebenwerden muss, damit sie auch die Leute in der letzten Reihe wahrnehmen, so müssen in der Welt eines Fürstenhofes Zorn, Unterwerfung, Versöhnung oder Trauer noch bei den Fernstehenden nachvollziehbar sein. Auch Prediger oder Dichter treiben in ihrer Rhetorik die «Gefühle» auf die Spitze.
Man muss also bei der Lektüre verstärkt auf Rituale aufmerksam werden: Rituale der sprachlichen Darstellung, Rituale als Medien in einer gesellschaftlichen Situation und Rituale als politische Botschaften. Aus diesem Blickwinkel wird deutlich, dass Worte von «Zorn» bis «Liebe» nicht unmittelbar auf die Lebenswirklichkeit verweisen und nicht dasselbe bedeuten, was wir dabei, aus unserer Sozialisation heraus, empfinden.
Einerseits wird auch bei den Affekten nach Maß und Ordnung gerufen. Andererseits ist der Verstoß dagegen z.B. in der Literatur ein probates Kunstmittel. Kriemhilts Rache und Tristans Liebe sind gute Beispiele. In der Politik kommt die maßvolle
serenitas
erst dann so richtig zur Geltung, wenn sie sich vom gelegentlichen Übermaß abhebt. Die Affekte werden als Rosse beschrieben, die den Lebenswagen feurig lenken. Wenn sie nicht am
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