Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters
Männern so gelesen, dass sie eine geringere Stellung der Frauen rechtfertigte; solche Interpretationen standen im Mittelalter im Vordergrund.
man und wîp diu sint al ein;
als diu sunne diu hiute schein,
und ouch der name der heizet tac.
der enwederz sich gescheiden mac:
si blüent ûz eime kerne gar
Mann und Frau sind ein Leib. Das ist
so wie die Sonne, die heute aufgegangen
ist, und der Name, der Tag heißt. Das
eine kann sich nicht vom andern
scheiden, das sind zwei Blüten aus
einem und demselben Kern.
Wolfram, Parzival 173, 1-5
Dennoch ist es aufschlussreich, zu sehen, dass es nicht nur diese Sichtweise gab. Aus dem bekannten zweiten, aber älteren Schöpfungsbericht, in dem Eva aus der Rippe Adams geformt wird (Gen 2, 21–23), schließt der bedeutende Lehrer der Kathedralschule in Paris, Petrus Lombardus († um 1160), in guter Tradition, die bis auf den Kirchenvater Augustinus († 430) zurückgeht, das sei ein Zeichen der Liebe: Dem Adam sei weder eine Herrin noch eine Magd, sondern eine Gefährtin gegeben worden (Sentenzen II 18, 2), denn die Rippe stehe dem Herzen nahe. Kein Geringerer als der Dichter Wolfram von Eschenbach († um 1220) legt dem Lehrer Parzivals, Gurnemanz, folgende Botschaft in den Mund:Einen bekannten Witz überliefert auch die Schriftstellerin Christine de Pizan († 1430): Für den Mann habe der Lehm genügt, für die Frau musste es edleres Material sein. Dazu passt der hintergründige Scherz, für Evas Verführung habe sich der Teufel persönlich bemüht, bei Adam genügte seine Frau.
Elemente und Säfte
Die von der antiken Medizin geprägten Erkenntnisse und Vorstellungen über Arbeitsweisen und Funktionen der verschiedenen Organe des menschlichen Körpers blieben – wenigstens in gebildeten Kreisen – im Mittelalter weiterhin Standard, wurden aber zumeist stark vereinfacht: Wie die Welt insgesamt besteht auch der Körper, wie bereits gesagt, aus den ursprünglichen vier Elementen, also Feuer, Luft, Wasser und Erde, die aber stets in einem speziellen Mischungsverhältnis auftreten und sich durch Verdichtung und Verdünnung ineinander verwandeln können. Dazu kommen die Qualitäten trocken, kalt, feucht und heiß.
Alle Körperfunktionen werden bestimmt von den vier Körpersäften, die schon in der Antike in der hippokratischen Schule aus einer Vielfalt von Wirkkräften als die wichtigsten herausgehoben wurden: das Blut,
sanguis,
die roten Gallsäfte,
cholera rubea,
die schwarzen Gallsäfte,
melancholia,
und die Schleime,
phlegmata,
die erst nach dem Sündenfall entstanden. Ist der Mensch gesund, sind diese Säfte maßvoll vorhanden und in rechter Weise gemischt. Auf dieser Vorstellung beruht die Lehre von den «Temperamenten»
(temperare,
mäßigen, in das richtige Maß setzen).
Typologie
Aus dieser Säftelehre ergibt sich eine Typologie, die wir noch heute verwenden, ohne viel über den kulturgeschichtlichen Hintergrund nachzudenken: Die Sanguiniker (heiß und feucht) sind nach Hildegard von Bingen heiter, barmherzig, geschwätzig, lachen gerneund sind sexuell aktiv. Die Choleriker (heiß und trocken) sind mager, gefräßig, schnell, tapfer, jähzornig, agil, aber weniger sexuell aktiv. Die Melancholiker (kalt und trocken) sind standhaft, schwermütig, sittenfest, aber auch arglistig. Die Phlegmatiker (kalt und feucht) sind träge, schlaftrunken und vergesslich.
Sanguinikerinnen, so Hildegard weiter, neigen zu Beleibtheit und haben weiches und zartes Fleisch. Sie haben ein helles und weißes Gesicht und sind gute Liebhaberinnen und Künstlerinnen. Ihre Monatsblutung ist leicht und sie sind fruchtbar, allerdings bekommen sie nicht sehr viele Kinder. Phlegmatikerinnen haben ein strengeres Gesicht und dunkleren Teint. Sie sind tüchtig und nützlich und etwas männlich. Auch sie leiden nicht an übermäßiger Blutung, empfangen leicht und sind auch gerne bei Männern. Cholerikerinnen sind bleich, klug und gutmütig. Sie leiden leicht unter Blutfluss, sind fruchtbar, Männer mögen sie, und die Frauen brauchen sie ebenso. Melancholikerinnen sind mager und haben eine blaugraue Haut. Sie sind unbeständig, leiden unter ihrer Menstruation, sind eher unfruchtbar und besser nicht verheiratet. Sie neigen im Alter zu Gicht und Podagra, Geschwüren und Kopfweh. Hildegard sah sich selbst als Melancholikerin. Das war eine vornehme Art, konnte man in der ins Lateinische übersetzten Schrift «Problemata physica» (Naturprobleme) lesen, die Aristoteles zugeschrieben wurde. Unter
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