Kleine Portionen
Universum entschweben.
Als die CD aus war, legte Etienne Schostakowitsch auf, das Cello-Konzert Nr. 1, das mich immer an einen verlorenen Menschen erinnerte, der versuchte, unsichtbaren Feinden, einer wütenden Menge zu entkommen. Etienne nahm mich in seine Arme. Ich nahm ihn in meine. Wir küssten uns. Schatten tanzten auf unseren Gesichtern, hüpften über die Mauern, wurden von den Fensterscheiben zurückgeworfen. Hinter diesen Fenstern, jenseits dieser Fenster brütete eine dunkle Nachtwelt.
Wir landeten schließlich auf dem Sofa und vögelten. Ich hatte nicht gewollt, dass das passiert. Ich hatte widerstehen wollen. Ich hatte vorgehabt, ihn wieder zu sehen, bevor wir. Wollte abwarten, bevor ich. Ich hatte nicht gewollt, das es so passiert.
War das Begehren einfach stärker? Hatte Lust ihren eigenen Willen, ihre eigenen Gesetze? War es ein Sieg des Fleisches über den Geist? Eine leicht-frühe Erfüllung? Warum fühlte ich mich dann nicht glücklich, als ich ging? Warum fühlte ich mich nicht erfüllt? Warum fühlte ich mich betrogen, unrein, verletzt, aber ein Opfer, das zugestimmt hatte? Ich weinte beinahe, als mich die Métro nach Hause brachte.
Auf dem Weg zu meiner Buchhalterin
Dienstagmorgen. Ich sitze in der Métro und bin auf dem Weg zur Place de la Nation. Meine Buchhalterin will mich sehen. Naja, nicht mich persönlich. Sie will meine Unterlagen sehen. Will die Zahlen überprüfen und nicht das verlegene Lächeln, mit dem ich ihr mein Durcheinander überreichen werde.
Es nieselt, der Himmel ist grau, ein kalter Wind weht vom Westen her. Der Lärm der Métro ist ohrenbetäubend. Die Leute um mich herum stieren leeräugig vor sich hin. Es ist erst Dienstag, und die Woche fühlt sich endlos an. Ich habe meinen iPod zu Hause vergessen, ich habe vergessen, ein Buch mitzunehmen, also beobachte ich die vorbeiziehenden Métrostationen, beobachte die Leute.
Zwei junge Mädchen sitzen mir gegenüber und schlafen, ein zweiköpfiger Menschenhaufen auf Faltsitzen. Der schwarze Typ vor mir liest Zeitung. Irgendjemand hört sich Heavy Metal an, und das ranzige, entfernte Geräusch von wimmernden Gitarren singt durch das Abteil. Jemand plappert am Handy und schießt schnelle, spanische Wörter in sein Gerät. Zwei bärtige Männer diskutieren auf Arabisch.
Die Zweier-Métrolinie ist die, die überirdisch läuft. Ich kann den Leuten in ihren Küchen beim Frühstücken zuschauen. Männer rasieren sich in ihren Badezimmern. Frauen schminken sich. Der Boulevard de la Villette unter uns glänzt regennass, Hupen ertönen, Autos beschleunigen, Wolken wollen aufbrechen. Wir überqueren den Kanal Saint-Martin. Braunes, schmutziges Wasser quirrlt unter uns.
Wir halten in der Colonel Fabien-Station. Die zwei Mädchen wachen mit einem Mal auf, stürmen aus dem Abteil. Eine junge Frau steigt ein, sie murmelt Verrücktes vor sich hin. »AIDS ist keine Plage!«, höre ich sie sagen, denn sie beschließt plötzlich, dass sie es uns allen mitteilen muss, und: »Niemand sollte einen anspucken dürfen! Krebs ist viel gefährlicher! Meine Großmutter hat Krebs gehabt! Aber sie ist sehr alt gewesen – 102! Der Krebs, der hat sie umgebracht! Aber 102, das ist sehr alt!« Die Frau öffnet eine Dose Bier, schüttet das halbe Bier über den Boden und kümmert sich nicht darum.
Es ist neun Uhr morgens. Das Abteil beginnt, nach Hopfen und Malz und Alkohol zu stinken.
»Ich bin Christin, müssen Sie wissen«, sagt die Frau jetzt, zu niemandem im Besonderen, zu uns allen, zu den Métrowänden. Sie trinkt ihr Bier, rülpst, fährt in ihrem Monolog fort. Wir versuchen alle krampfhaft, irgendwo hin zu schauen, nur nicht zu ihr. »Ich bin Christin, und die hatten gar keine Flugblätter mehr, ich hab das letzte genommen«, meint sie und schwenkt das Flugblatt, das sie in der anderen Hand hält, der Hand ohne Bier. »Stellen Sie sich das bloß vor – das hier war das letzte! Aber ich sag Ihnen was, Leute dürfen einen nicht anspucken! Mit AIDS kann man 102 Jahre alt werden, genau wie meine Großmutter, sie hat kein AIDS gehabt, sie ist an Krebs gestorben, aber wer sind die denn? Sind die besser als wir, was? Ich meine, man kann doch die Leute nicht einfach sterben lassen! Ja, ja, wir sterben alle irgendwann einmal! Aber mit den richtigen Medikamenten kann man lange, lange leben, bis man ganz alt ist! Sogar wenn man AIDS hat! So schlimm wie Krebs ist es ja nicht, aber sie sollten einen richtig behandeln, sie sollten einen wie einen
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