Kleine Schiffe
sondern viel tiefer. Inwendig. Unvergesslich. Dazu muss ich keinen Rahmen aufstellen.
Das Schlafzimmer habe ich zuerst gestrichen, denn ich wollte auf einmal so schnell wie möglich aus der alten Wohnung raus und in mein neues Leben hinein. Andreas hatte schon bei seinem Auszug etliche Möbel mitgenommen, und ich trennte mich jetzt von weiteren. Außer einigen kleinen Teilen musste allerdings der alte Nussbaum-Schlafzimmerschrank meiner Großeltern mit in mein neues Haus. Und natürlich habe ich auch alle meine Bastelutensilien aus der Kammer mitgenommen. Sie stehen jetzt in dem Raum neben dem Wohnzimmer, und ich denke darüber nach, ihn zum reinen Bastelzimmer zu machen.
Dass ich das Häuschen so günstig und schnell bekommen habe, lag an der Tatsache, dass ich dem Vermieter versicherte, es mache mir nichts aus, vieles selbst zu renovieren.
»Meine Hochachtung, gnädige Frau«, sagte er etwas schnöselig und deutete eine Verbeugung an. Ich kenne diese Sorte Männer aus der Praxis: stets im Anzug, enorm smart, aber häufig mit sehr unreiner Haut auf dem Rücken.
»Eine Frau von Ihrem Format begrüße ich gern als Neuzugang in unserer Hausgemeinschaft«, fügte er hinzu. Was mir Tina hinterher mit »solvent, alleinstehend, keine lauten Partys, keine Hunde und keine Kinder« übersetzte.
Dass ich mir das Häuschen überhaupt leisten kann, verdanke ich Tante Susanne, Papas Schwester. Die ist nämlich kurz nachdem Andreas und ich uns getrennt hatten gestorben. Sie lebte in einer Eigentumswohnung in Hannover, die sie uns hinterließ. Papa vermietet sie, und ich bekomme davon monatlich genug, um mir die Miete in der Wiesenstraße leisten zu können. Den Rest spart Papa, für den Fall, dass er bettlägerig wird oder medizinische Hilfe braucht. Es geht mir also gut. Manchmal habe ich deswegen ein schlechtes Gewissen. Deutschland ist immer noch ein Land der Erben, Krise hin oder her. Ich gehöre zu diesen Erben. Und könnte ohne Erbschaft nicht so leben, wie ich es tue.
Natürlich ist das Häuschen ein wenig zu groß für eine einzige Person. Aber ich fühle mich dort jetzt schon wohler als jemals in unserer alten Wohnung. Als ich am ersten Morgen im neuen Haus in meiner Küche stand und mir den ersten Kaffee machte, erfasste mich keinesfalls wie erwartet das heulende Elend. Im Gegenteil: Ich spürte, wie mich ein warmer Strom Aufregung und Vorfreude durchflutete. Ich blickte mich in meiner Küche um, sah auf das verwilderte Grün vor dem Küchenfenster und fing an, mich in meiner neuen Welt einzurichten. Die Küche ist zu großen Teilen Papas Werk, und diesmal habe ich ihn ausnahmsweise schalten und walten lassen. Seine Hilfe bei der Küche abzulehnen wäre ungefähr so gewesen, als würde man sich beim Durchchecken eines Autos gegen die Hilfe eines Automechanikers wehren. Papa hat dankenswerterweise keine chromglänzende Schulküche eingerichtet, sondern eine gemütliche Kochinsel geschaffen, mit Hängeschränken, einem modernen Herd und einer beeindruckenden Kühlschrank-Gefriertruhe-Kombination, die mich an den Eisberg erinnert, der die Titanic zum Untergang brachte. Auf der breiten Fensterbank ist Platz für Kräutertöpfe, es hängen Körbe für Zwiebeln und Knoblauch von der Decke der Speisekammer, und gegen einen großen, ovalen Holztisch vom Flohmarkt hatte er ebenso wenig wie gegen die Anschaffung eines gemütlichen Küchensofas. Im Untergeschoss gibt es außer der Küche noch eine Gästetoilette, einen kleinen Flur mit Windfang, das geplante Bastelzimmer und ein Wohnzimmer mit Kamin. Oben befinden sich neben dem Badezimmer mit der zweiten Toilette noch drei Zimmer. Eines davon ist mein Schlafzimmer, aus einem will ich ein Gästezimmer machen und aus dem dritten – keine Ahnung. Herrlich, wie viel Platz ich jetzt habe. Und wie viele Möglichkeiten! Aber das hat noch Zeit. Zunächst müssen die oberen Räume gestrichen werden.
Genau das tue ich zwei Tage nach der Scheidung im Anschluss an die Arbeit, während auf Klassikradio leise Filmmusik dudelt. Tina, die mir helfen will, öffnet erst einmal die mitgebrachte Flasche Sekt. Nach dem charakteristischen Korkenknallen höre ich wenig später ihre Schritte auf der Treppe. Während sie ein Tablett mit Flasche und Gläsern auf dem Boden abstellt, wirft sie ihre langen dunklen Haare mit Schwung nach hinten.
Vereinzelt sind bei ihr schon graue Strähnen zu sehen, aber Tina hat sich geschworen, die Haare niemals abzuschneiden. »So eine Kurzhaarfrisur für Frauen
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